Zeitstrahl

Für all jene Menschen, deren elementare Lebensbedürfnisse von einem Tabu wie dem der Homosexualität belastet sind, bleibt auch die freie Welt eine Diktatur.
WOLFGANG BENNDORF

diskriminiert+ ist eine Gedenkplattform des Bundesministeriums für Justiz und widmet sich der Aufgabe, das Schicksal homosexueller Menschen sichtbar zu machen, die seit 1945 Verfolgung, Ausgrenzung und Diskriminierung durch die Republik Österreich erfahren haben. Ziel ist es, nicht nur zu gedenken, sondern auch aufzuklären und zu sensibilisieren.

Diese Plattform bietet einen umfassenden Einblick in die historischen und rechtlichen Entwicklungen, die zur heutigen gesellschaftlichen Vielfalt beigetragen haben. Ein zentraler Bestandteil des Projekts ist die Veröffentlichung einer umfassenden Studie zur strafrechtlichen Verfolgung queerer Menschen in Österreich von 1945 bis heute. Mit dem Fokus auf die Rolle der Justiz, von der die Initiative für diese Plattform ausgeht, soll das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Toleranz und Gleichberechtigung geschärft und ein Raum für Lernen und Austausch geschaffen werden. Gemeinsam wollen wir aus der Vergangenheit lernen und die Zukunft aktiv gestalten.

Gleichzeitig soll auch die zentrale Bedeutung der vielen Menschen und NGOs der LGBTIQ+-Community unterstrichen werden, die durch ihren entschlossenen und beharrlichen Einsatz maßgeblich zur Entkriminalisierung von Homosexualität und Erwirkung der Ehegleichheit beigetragen haben. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Plattform gegen § 209 und die Bürgerinitiative Ehe-Gleich. Die hier exemplarisch verlinkten Internetseiten der beiden Zusammenschlüsse sind als virtuelle Denkmäler der erzielten Erfolge im Internet abrufbar geblieben und dienen als direkte Fenster in die Vergangenheit.

Zeitstrahl: Der lange Weg zu Akzeptanz und Gleichstellung

1803

„Widernatürliche Unzucht“ in der k.k. Monarchie

„Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“ – Homosexuelle Kontakte, sowohl zwischen Frauen als auch Männern, waren auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich seit jeher strafbar. 1803 drohte eine Strafe von einem halben bis zu einem Jahr schwerer Kerker. Aufgrund der geschlechtsneutralen Formulierung wurden homosexuelle Frauen und Männer gleichermaßen bestraft. Das Strafgesetz 1852 verschärfte den Strafrahmen sogar auf ein bis fünf Jahre. Auf Grundlage des § 129 Ib des Strafgesetzes wurden Homosexuelle schließlich von 1852 bis 1971 verfolgt.

1867 – 1932

Erfolglose Reformversuche

Im k. u. k. Justizministerium lag 1867 ein Entwurf vor, wonach Homosexualität unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr verfolgt werden sollte: „Die beiderseitige Einwilligung […] vorausgesetzt, hat die Strafgesetzgebung keinen Anlass zum Einschreiten, weil Niemandes Rechte verletzt sind, und weil es jedem überlassen bleiben muss, es vor sich selbst zu verantworten, wenn er sich […] gewissen Unsittlichkeiten hingibt.“ Bis 1932 scheiterten jedoch mehrere Reformversuche.

1938 – 1945

Mit dem Rosa Winkel ins Konzentrationslager

Das österreichische Strafgesetz galt zwar formell von 1938 bis 1945 weiter, doch die Nationalsozialisten verschärften die Verfolgung. Nach dem Anschluss erhöhten sich die Anzahl der Verurteilungen und die verhängten Strafen drastisch. Zahlreiche wegen Homosexualität Verurteilte wurden als Häftlinge mit dem „Rosa Winkel“ in ein Konzentrationslager eingewiesen. Ein Großteil überlebte die Zeit im Lager nicht.

1955 – 1966

Mehr Verfolgung in der Zweiten Republik

1945 wurde das Strafgesetz von 1852 unverändert wiederverlautbart. Der strafrechtliche Druck auf homosexuelle Menschen nahm daraufhin sogar noch zu. Mit 815 Verurteilungen verzeichnete Österreich 1955 einen traurigen Rekord: 779 Männer (davon 177 Jugendliche) und 36 Frauen (davon 3 Jugendliche). Neben der Haftstrafe zogen strafrechtliche Verurteilungen auch andere Konsequenzen nach sich, wie etwa den Verlust des Führerscheins oder des akademischen Grades. Die sozialen Folgen umfassten gesellschaftliche Ächtung sowie häufig auch den Verlust von Familie und Freundeskreis.

1957 tagte eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzentwurfs. Die Strafrechtskommission sprach sich mit zehn zu zwei Stimmen gegen die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Erwachsenen aus. Die Politik nahm diese Empfehlung allerdings vorerst nicht an.

Im Laufe der 1960er-Jahre stellten die meisten europäischen Länder die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen ein. Österreich blieb jedoch eines jener westlichen Länder, in dem Frauen und Männer weiterhin wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden.

1971

Homosexualität straffrei, aber nicht erwünscht

Mit einer parlamentarischen Mehrheit gelang es in diesem Jahr, das sogenannte „Totalverbot homosexueller Handlungen“ abzuschaffen. Einvernehmliche sexuelle Handlungen beispielsweise in einer Beziehung waren nun erstmals auch für gleichgeschlechtliche Personen nicht mehr strafbar.

Anstelle des § 129 Ib des Strafgesetzbuchs wurden jedoch neue strafrechtliche Bestimmungen eingeführt. Strafbar sollte demnach bleiben: die männliche gleichgeschlechtliche Prostitution, die „Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht oder mit Tieren“, „gleichgeschlechtliche Unzucht einer erwachsenen Person männlichen Geschlechtes mit einem Jugendlichen“ sowie „Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht“.

Mit diesen neuen Strafrechtbestimmungen wollte der Gesetzgeber ausdrücken, dass Homosexualität, wenn auch straffrei, gesellschaftlich nicht erwünscht sei. Das in der NS-Zeit besonders stark propagierte Stereotyp des homosexuellen „Jugendverderbers“ blieb weiterhin präsent. Sichtbarkeit und Emanzipation sollten weitgehend unterbunden werden. Durch die Gleichsetzung von gleichgeschlechtlichen Handlungen mit Sodomie blieb die gesellschaftliche Ächtung von Homosexualität auch weiterhin gesetzlich festgeschrieben.

1970er/​1980er-Jahre

Coming Out und HOSI schaffen Akzeptanz

Trotz des Verbots derartiger Verbindungen entstanden Organisationen wie die erste informelle Schwulengruppe der 1970er-Jahre „Coming Out“ und die 1979/80 gegründete Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien. Diese engagierten sich für die Abschaffung der verbliebenen vier strafrechtlichen Bestimmungen. Da die Gründung der HOSI Wien als Verein nicht untersagt wurde, erwies sich das in Geltung stehende Verbot solcher Verbindungen als praktisch totes Recht. Es folgten bald Vereine in Salzburg, Oberösterreich, Steiermark und Tirol.

1988 – 1991

Beratung für Homosexuelle und Forderungen nach Gleichstellung

Österreich hob das „Prostitutionsverbot durch gleichgeschlechtliche Unzucht“ auf, unter anderem weil dieses Verbot die AIDS-Präventionsarbeit in dieser Zielgruppe erschwert hatte.

Schweden stellte als erstes Land der Welt gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften rechtlich mit verschiedengeschlechtlichen gleich. Die HOSI Wien forderte „die Gleichstellung mit heterosexuellen Lebensgemeinschaften bzw. der Ehe“ auch in Österreich.

1995 – 1998

Weitere Verbote fallen

Das Parlament beschloss 1996 die Aufhebung des Verbots von „Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht“ sowie des Verbots von “Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechts“.

1997

Initiative für Gleichstellung im Mietrecht

1997 fand ein ministerieller Vorstoß zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner:innen im Mietrecht noch keine parlamentarische Mehrheit.

1998

Gleichgeschlechtliche Lebenspartner:innen als Angehörige anerkannt

Der Nationalrat beschloss, die Angehörigendefinition im Strafrecht auf gleichgeschlechtliche Lebenspartner:innen auszudehnen.

2001 – 2005

Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes

Das Entschädigungsfondsgesetz 2001 und eine Änderung des Opferfürsorgegesetzes 2005 legten die rechtliche Grundlage für die Anerkennung von Verfolgung auf Grund der sexuellen Orientierung durch das NS-Regime.

2002

Letzte homophobe Strafbestimmung aufgehoben

2002 hob der Verfassungsgerichtshof die Strafbestimmung gegen „gleichgeschlechtliche Unzucht mit Jugendlichen“ (§ 209 StGB) als verfassungswidrig auf. Diese Bestimmung hatte Strafen für Männer ab 19 Jahren vorgesehen, die gleichgeschlechtlichen Sexualkontakt mit Männern unter 18 Jahren hatten, während heterosexuelle oder lesbische Sexualkontakte ab einem Alter von 14 Jahren nicht strafbar waren. Dass die Strafbestimmung des § 209 StGB nur für Männer galt, belegt eindrücklich, wie Frauen ihre Sexualität abgesprochen wurde.

2004

Rechtliche Gleichbehandlung

Das neue Gleichbehandlungsgesetz und die Novelle zum Bundesgleichbehandlungsgesetz traten 2004 in Umsetzung entsprechender EU-Richtlinien in Kraft. Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung war von da an in der Arbeitswelt verboten. Dadurch haben auch homosexuelle Personen einen Rechtsanspruch auf Pflegefreistellung und Familienhospizkarenz zur Pflege kranker und sterbender Lebenspartner:innen.

Die Höchstgerichte entschieden 2005 die Löschung aller Vormerkungen nach § 209 StGB. Der Bundespräsident begnadigte 2006 auf Vorschlag der Justizministerin die meisten der wegen “geschlechtlicher Unzucht” verurteilten Personen. Davon betroffen waren großteils Personen, denen lediglich einvernehmliche sexuelle Handlungen mit Personen desselben Geschlechts vorgeworfen worden waren. Personen, die wegen eines Sachverhalts verurteilt worden waren, der weiterhin strafbar war, wurden nicht begnadigt.

2006

„Transsexuellenerlass“ aufgehoben

Wegen des darin enthaltenen Scheidungszwanges für (nach geschlechtsanpassender Operation) gleichgeschlechtliche Ehepaare hob der Verfassungsgerichtshof 2006 den sogenannten „Transsexuellenerlass“ des Innenministeriums auf.

2007 – 2009

Eingetragene Lebenspartnerschaft auf den Weg gebracht

Nach mehreren unterschiedlichen Entwürfen zum Lebenspartnerschaftsgesetz beschloss der Nationalrat das „Eingetragene Partnerschaft-Gesetz“ (EPG). Die ersten EP-Eintragungen in Österreich fanden am Montag, 4. Jänner 2010, dem ersten möglichen Werktag, statt: Vier Paare ließen ihre Partnerschaft in Wien an diesem Tag eintragen.

2010 – 2015

Kein „Zwangsouting“ mehr für transsexuelle Personen, Adoptionsrecht und Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare

Der Verwaltungsgerichtshof hob im Jahr 2010 einen Bescheid des Innenministeriums auf, der – trotz der gegenteiligen höchstgerichtlichen Erkenntnisse aus 2009 – von einer transsexuellen Frau die Entfernung der Genitalien verlangt hatte. Nunmehr wurde für die Anerkennung des neuen Geschlechts keine genitalverändernde Operation mehr vorausgesetzt. In einer weiteren Entscheidung lehnte der Verwaltungsgerichtshof das „Zwangsouting“ transsexueller Personen durch Heiratsurkunden ab. Die vom Innenministerium vorgegebenen Formulare, die die Ehepartner als „Mann“ und „Frau“ ausweisen, wurden als gesetzwidrig erkannt und waren nicht mehr zu verwenden.

Der Verfassungsgerichtshof stellte fest, dass auch gleichgeschlechtliche Paare den verfassungsgesetzlichen Schutz der Familie genießen.

Der Nationalrat beschloss 2011 die Ausdehnung des gesetzlichen Schutzes gegen Verhetzung auch auf die sexuelle Orientierung. Außerdem dürfen seit 2013 Personen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft Stiefkinder adoptieren. Der Verfassungsgerichtshof hob 2014 das Verbot der gemeinsamen Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare auf. Seit 2015 gilt in solchen Fällen die automatische Co-Elternschaft.

Auf Antrag können Betroffene seit 2015 Verurteilungen wegen Homosexualität tilgen lassen.

2011 – 2017

„Klagsoffensiven“ beseitigen weiterhin aufrechterhaltene Ungleichbehandlung

Als Folge mehrerer „Klagsoffensiven“– allen voran durch den Verein Rechtskomitee LAMBDA – beseitigte der Verfassungsgerichtshof bis 2017 viele offenbar bewusst gesetzte symbolische Unterschiede im Eingetragene Partnerschaft-Gesetz (EPG) im Vergleich zur Eheschließung: Das Höchstgericht beseitigte im September 2011 die unterschiedliche Ausgestaltung von Doppelnamen bei Ehe und Eingetragener Partnerschaft (mit bzw. ohne Bindestrich), im Juni 2012 den Amtsraumzwang für die Begründung von eingetragenen Partnerschaften und ordnete im Dezember 2012 die gleiche Zeremonie (Jawort, Trauzeug:innen etc.) an. Ab dem 1. April 2017 wurden eingetragene Partnerschaften wie Ehen am Standesamt geschlossen. Gleichgeschlechtliche Paare durften ab diesem Zeitpunkt einen „Familiennamen“ tragen und nicht nur einen „Nachnamen“. Zugleich verpflichtete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Österreich zu Ersatzzahlungen für die jahrelang hartnäckig aufrecht erhaltene Ungleichbehandlung.

2017

„Ehe für alle“

In einem Verfahren von fünf Kindern, die mit ihren gleichgeschlechtlichen Eltern deren Eheverbot bekämpften, öffnete der Verfassungsgerichtshof am 4. Dezember 2017 schließlich die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und umgekehrt die eingetragene Partnerschaft für verschiedengeschlechtliche Paare. Die sogenannte „Ehe für alle“ trat am 1. Jänner 2019 in Kraft und führte zu einer deutlichen Zunahme der rechtlichen Absicherung bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Zuvor hatte die Bürgerinitiative “Ehe-Gleich” über 60.000 Unterstützungserklärungen gesammelt.

2018

Drittes Geschlecht als Menschenrecht

Als erstes Land in Europa erkennt Österreich nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ein drittes Geschlecht als Menschenrecht an. 2020 wird die erste Geburtsurkunde Österreichs mit dem Geschlechtseintrag „Inter“ ausgestellt.

2021 – 2024

Entschuldigung und Rehabilitierung

Die Justizministerin Dr.in Alma Zadić, LL.M. entschuldigte sich im Namen der Justiz für die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen in der Zweiten Republik.

Der Nationalrat beschloss, alle Personen zu rehabilitieren und finanziell zu entschädigen, die in der Zweiten Republik wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt worden waren.