Erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz von QWIEN – Zentrum für queere Geschichte, bietet diese Untersuchung tiefgehende Einblicke in die historischen und rechtlichen Entwicklungen, die das Leben vieler Menschen geprägt haben. Die Studie ist auf dieser Plattform zugänglich und wurde interaktiv gestaltet, um ein breiteres Publikum zu erreichen und zur aktiven Auseinandersetzung mit den Inhalten zu ermutigen.
Diese Studie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Sensibilisierung für die historischen Ungerechtigkeiten, denen viele Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgesetzt waren. Sie lädt dazu ein, sich mit den fortwährenden Herausforderungen auseinanderzusetzen, die aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen. Indem sie die komplexen Verflechtungen von Recht und Gesellschaft transparent macht, schafft die Studie einen Raum für Bildung und Reflexion, der für die Gestaltung einer gerechteren Zukunft unerlässlich ist.
Teil 1: Die strafrechtliche Verfolgung 1852 – 2002
Einleitung
„Für all jene Menschen, deren elementare Lebensbedürfnisse von einem Tabu wie dem der Hst (Homosexualität, Anm.) belastet sind, bleibt auch die freie Welt eine Diktatur.“ 1Wolfgang Benndorf, Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht. § 129 Ib öStG (§ 175 StGB) im Lichte der Tatsachen (Wien 1956), 31.
Dem Strafrecht kommt in der modernen Gesellschaft stets eine besondere Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben zu. Es entfaltet nicht nur einen lenkenden Effekt in politischen genauso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen – das Strafrecht hat, neben Diskursebenen wie der Wirtschaft, der Politik oder dem Glauben, auch eine große symbolische Bedeutung für die Verfasstheit gesellschaftlicher Dynamiken. Angesichts der langanhaltenden Verfolgung von Personen der LGBTIQ+ Community, insbesondere von Schwulen, Lesben und Bisexuellen aufgrund gleichgeschlechtlicher Handlungen, kann zurecht festgestellt werden, dass es durch homophobe (Sonder)Strafbestimmungen lange gelang, „die heterosexuelle Gesellschaftsordnung zu bekräftigen“. 2Ulrike Repnik, Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich (Wien 2006), 53. Besonders klar bringen diesen Umstand Benke und Holzleithner unter Verwendung des Überbegriffs der Unzucht auf den Punkt:
„Was das Strafrecht verbietet, gilt jedenfalls als nachhaltig verpönt und schafft damit eine überragende affirmative Position im politischen und moralischen Diskurs. (…) Die Geschichte der ‚Unzucht‘ in Österreich seit der Aufklärung beweist die langjährige und andauernde Blüte einer gesellschaftlichen Ordnungskonzeption, die mit einem Sittlichkeitsregime einhergeht, das häufig in einem die legitime Schutzfunktion des Strafrechts weit überschreitenden Maß Ausgrenzung rechtlich festschreibt und mit normierenden Ängsten arbeitet.“ 3Nikolaus Benke/Elisabeth Holzleithner, Zucht durch Recht. Juristische Konstruktionen der Sittlichkeit im österreichischen Strafrecht, in: L'Homme: Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 9, Heft 1 (Göttingen 1998), 46 f.
Dass die rechtlichen Kategorien von Sexualität und Geschlecht „immer instrumentellen Charakter besitzen“ und der Machterhaltung vorherrschender Interessen dienen, stellt auch Treiblmayr in seinen Forschungen fest. Dazu verwendet er den Begriff der „Manipulationsstrategien“, mit deren Hilfe kulturell-ideologische Hegemonie darüber geschaffen wird, was in diesen Kategorien als akzeptiert bzw. sanktionierungswürdig gesehen wird: 4Vgl. Christopher Treiblmayr, Von Maria Theresia zu Conchita. Staatliche und gesellschaftliche Vorgaben für legitimen Sex, in: Andreas Brunner/Frauke Kreutler/Michaela Lindinger/Gerhard Milchram/Martina Nußbaumer/Hannes Sulzenbacher (Hrsg.), Sex in Wien. Lust. Kontrolle. Ungehorsam (Wien 2016), 82 f.
„Hegemonie bedeutet nicht das direkte Hervorrufen von Ideen oder Handlungen, sondern sie setzt gewissermaßen den strukturellen und mentalen Rahmen und die Grenzen fest, innerhalb derer Individuen und Gruppen ihre Sexualität leben und sich als sexuelle Wesen begreifen können.“ 5Ebd., 82.
In der folgenden Studie sollen unter diesen Gesichtspunkten die Entstehung, die (Aus)Wirkungen und die Aufarbeitung der Strafverfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen in Österreich beleuchtet und dabei auf verschiedene Quellengattungen zurückgriffen werden. 6Besonders seien in diesem Zusammenhang zwei Werke zu erwähnen, die wirkliche Pionierarbeit zur politischen und (straf)rechtlichen Situation Homosexueller in Österreich in der zweiten Republik geleistet haben und damit wichtige Ressourcen für Aufarbeitung wie die vorliegende Studie zur Verfügung gestellt haben: Martin J. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht. Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002 (Graz 2011). Hans-Peter Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, in: Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V., Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 13. Jahrgang (Hamburg 2011). Durch die Verbindung von diskursiven Elementen, die den Hintergrund für die Anwendung und Weiterentwicklung einzelner strafrechtlicher Bestimmungen bilden, mit politischen und parlamentarischen Entscheidungen, soll dabei ein Überblick über das Schicksal von gleichgeschlechtlich l(i)ebenden Menschen in Österreich von 1945 bis in die Gegenwart ermöglicht werden.
Kapitel 1: Die Kontinuität der strafrechtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen in Österreich
„Doch die Verfolgung nach dem Strafgesetzbuch begann weder mit dem Nationalsozialismus, noch hörte sie mit ihm auf. Die strafrechtliche Verfolgung (…) bildet vielmehr ein Element des Kontinuums in den rechtsstaatlichen Systemen der Ersten und Zweiten Republik, dem österreichischen autoritären Ständestaat (1934-1938) und dem System der nationalsozialistischen Herrschaft (…).“ 7Albert Müller/Christian Fleck, ‚Unzucht wider die Natur‘. Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er Jahren. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 9. Jg., Heft 3/1998 (Wien 1998), 400 f.
Die Verfolgung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen durch Mittel des Strafgesetzes gehört zu den langfristigen historischen Kontinuitäten Österreichs – bis ins Jahr 2002 ahndeten einzelne Strafgesetze spezifische Handlungen und kriminalisierten Homosexuelle. Diese strafrechtliche Verfolgung bildete jedoch nicht nur, wie von Müller und Fleck ausgedrückt, eine Kontinuität in den demokratischen Rechtssystemen nach 1918 und den autoritären/faschistischen Herrschaftssystemen zwischen 1934 und 1945, sondern leitete sich ursprünglich aus den Bestimmungen gegen „Unzucht wider die Natur“ in der Zeit der Monarchie her. Für eine ausführliche Betrachtung der Verfolgung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Zweiten Republik bleibt daher ein Überblick über die Ursprünge der strafrechtlichen Bestimmungen gegen Homosexuelle vor 1945 unerlässlich. 8Die Frage von Begrifflichkeiten ist insbesondere hinsichtlich der Beschreibung sexueller Identitäten und Handlungen von besonderer Bedeutung. Dieser Umstand zeigt sich bereits bei der Verwendung verschiedener Begriffe zur Definition der strafrechtlichen Bestimmungen, die in dieser Studie analysiert werden – Ausdrücke wie ‚Unzucht‘, ‚gleichgeschlechtliche Handlungen‘ oder ‚Homosexualität‘ sind mit unterschiedlichen Bedeutungen konnotiert und wurden historisch oft bewusst eingesetzt, um eine inhaltliche Bewertung zu transportieren. In der vorliegenden Studie werden daher Begriffe wie ‚Homosexualität‘ oder ‚Homosexuelle‘ sparsam eingesetzt und beschreiben in diesen Fällen nicht nur die Identität der jeweils Angesprochenen, sondern auch in generellem Kontext die Betroffenen von Strafverfolgung, die sich gegen gleichgeschlechtliche Handlungen richtete. Andere Begrifflichkeiten werden, insbesondere bei direkten oder indirekten Zitaten, verwendet, um den jeweils transportierten Kontext detailgetreu widerzugeben. Außerdem wird versucht, Geschlechtervielfalt – in Fällen, in denen eine solche nachweisbar ist, durch Einsatz einer geschlechtergerechten Sprache mit Asterisk (*) sichtbar zu machen.
Zentral für die Kontiunität der Verfolgung Homosexueller in Österreich war historisch der Begriff der ‚Unzucht‘. Als Unzucht wurden bereits ab der frühen Neuzeit gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und solche mit Tieren durch verschiedene Landgerichtsordnungen im Habsburgischen Einflussbereich verfolgt. 9Vgl. Hans-Peter Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, in: Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V., Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 13. Jahrgang (Hamburg 2011), 46. Diese regionalen Ordnungen wurden 1768 durch die Constitutio Criminalis Theresiana, dem ersten einheitlichen Strafrecht der habsburgischen Erblande, abgelöst. Das Theresianische Strafrecht trat im Jahr 1770 in Kraft und regelte in Artikel 74 die „Laster der Unkeuschheit wider die Natur, oder sodomitische Sünd“. Neben der ‚Sodomie‘ – also dem Geschlechtsverkehr zwischen Frau und Frau, Mann und Mann, sowie Mann und Frau außerhalb der Missionarsstellung – wurden dadurch auch die Tatbestände der Masturbation und Nekrophilie geahndet. 10Vgl. ebd. Schon nach dem alleinigen Regierungsantritt von Kaiser Joseph I. wurden wenige Jahre später weitreichende Reformvorschläge hinsichtlich des Sexualstrafrechts diskutiert, die bis hin zu einer Abkehr der strafrechtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen reichten. 11In der ab 1781 tagenden Kompilationshofkommission der Obersten Justizstelle fand jedoch der Ansatz einer rein zivilrechtlichen Ahndung gleichgeschlechtlicher Handlungen, wonach „dieses Laster mehr eine Religionssache seye, und also blos das etwo unterlofene Ärgerniß mit mässigen Züchtigungen behandelt werden solle“, aber keine Mehrheit. Vgl. Gerhard Ammerer, Das Ende für Schwert und Galgen? Legislativer Prozess und öffentlicher Diskurs zur Reduzierung der Todesstrafe im Ordentlichen Verfahren unter Joseph II. (1781-1787), (Wien 2011), 167. Als Höchststrafe war die Todesstrafe vorgesehen. Im 1787 kundgemachten Josephinischen Strafrecht wurde als ‚politisches Verbrechen‘ schließlich bestraft, „wer die Menschheit in dem Grade abwürdiget, um sich mit einem Vieh, oder mit seinem eigenen Geschlechte fleischlich zu vergehen“. 12Das Strafmaß dieser Bestimmung der Constitutio Criminalis Josephina belief sich von einem Tag bis zu einem Monat Züchtigung mit Streichen und öffentlicher Arbeit bzw. Gefängnis. Entscheidend für die Bestrafung war dabei, ob die Tat in der Öffentlichkeit stattgefunden hat und öffentliches Ärgernis erregt wurde. Wie Sylvia Maria Kreiner ausführt, bedeutete die neue Strafmöglichkeit der ‚öffentlichen Arbeit‘ jedoch die Praxis des Schiffziehens, was in vielen Fällen der, im Josephinischen Strafrecht offiziell abgeschafften, Todesstrafe gleichkam: „Die Bestrafung konnte durch etliche Maßnahmen radikalisiert werden, zb etwa durch die Vorschreibung des Fastens mit nur Wasser und Brot oder etwa durch die Züchtigung mit Streichen. Das Gesetz hat zusätzlich vorgeschrieben, dass ‚(...) der Täter vom Ort des öffentlichen Ärgernisses abzuschaffen, dh zu entfernen‘ ist.“ Sylvia Maria Kreiner, Die Entkriminalisierung der Homosexualität in Österreich. Eine rechtshistorische Darstellung (ungedr. Diplomarbeit Karl-Franzens-Universität Graz, 2016), 22. Eine erneute Verschärfung brachte das Strafgesetzbuch des Jahres 1803: Dort wurden als ‚Unzucht wider die Natur‘ die Tatbestände der Selbstschändung, sexuelle Handlungen zwischen Frau und Frau bzw. Mann und Mann, sowie solche zwischen Mann und Frau „auf naturwidrige Art und die Unzucht eines Menschen mit einem Wesen anderer Gattung“ mit einer Strafandrohung zwischen sechs Monaten und einem Jahr versehen. 13Repnik, Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich, 54.
Auf Basis dieser Rechtsordnungen trat im Jahr 1852 durch Kaiserliches Patent jenes Strafrecht in Kraft, das die langfristigste Folgewirkung hinsichtlich der Verfolgung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen hatte. Mit § 129 des neuen Strafgesetzbuches wurde darin festgelegt:
„Als Verbrechen werden auch nachstehende Arten der Unzucht bestraft:
I. Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Thieren; b) mit Personen desselben Geschlechts.“
Die Strafandrohung betrug dabei zwischen einem und fünf Jahren schweren Kerkers, konnte aber unter bestimmten Umständen auch höher bemessen werden. Die sehr allgemeine Formulierung dieses Paragrafen sorgte jedoch in den folgenden Jahren immer wieder für rechtliche und politische Unklarheiten. 14Für eine sehr breite Rechtsauslegung des § 129 Ib sorgte während der Zeit seiner Wirksamkeit insbesondere der Verzicht auf eine genaue Definition der Tathandlung. Wie Kirchknopf darstellt, erlaubte der Begriff „mit“ eine vielfältige und oft widersprüchliche Auslegung bei der Bewertung einzelner Tatbestände: So stellte das Höchstgericht 1902 fest, dass damit „kein aktives Mitwirken aller Beteiligten gefordert sei“, entschied aber sowohl 1930 als auch 1946 gegenteilig, nur um 1958 wieder zur ursprünglichen, restriktiveren Auslegung zurückzukehren. Vgl. dazu Johann Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, in: Zeitgeschichte 43/2, März/April 2016 (2016), 77.
Mittels dieses § 129 Ib wurden Homosexuelle in Österreich schließlich von 1852 bis zur Kleinen Strafrechtsreform des Jahres 1971 verfolgt. Mehrere Anläufe für Strafrechtsreformen zwischen 1852 und 1938 blieben erfolglos, wenngleich auch die Frage des Sexualstrafrechts und insbesondere die Ahndung gleichgeschlechtlicher Handlung in all diesen Debatten zentrale Bedeutung einnahm. 15Besonders hervorzuheben ist dahingehend der Strafrechtsentwurf des Jahres 1867, in dem erstmals ein Ende des Totalverbots gleichgeschlechtlicher Handlungen vorgeschlagen wurde. Vgl. Repnik, Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich, 55. Einen anderen Weg schlug der Vorentwurf zu einer Strafrechtsreform 1909 ein, in dem unter § 269 die offenen Interpretationsspielräume hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexualität ausgeräumt werden sollten: Durch präzisere Formulierungen sollte der Begriff ‚Unzucht‘ nicht auf tatsächlich beischlafähnliche Handlungen reduziert und stattdessen in einer deutlich weiteren Auslegung angewandt werden. Außerdem sah dieser Entwurf erstmals Strafen zum Schutz Minderjähriger und gegen die ‚Verführung‘ derselben vor. Die finale Regierungsvorlage des Entschlusses wurde zwar 1913 verabschiedet, jedoch aufgrund des Kriegsbeginns 1914 niemals beschlossen. Vgl. dazu u.a. Kreiner, Die Entkriminalisierung der Homosexualität in Österreich, 28. Auch die Versuche, in den 1920er-Jahren ein gemeinsames Strafrecht für Österreich und die deutsche Weimarer Republik zu schaffen, beschäftigten sich mit dieser Frage, blieben aber letztendlich erfolglos. 16Entsprechend der damaligen Rechtslage in der Weimarer Republik sah § 296 dieses gemeinsamen Strafrechtsentwurfs die Ahndung von sexuellen Handlungen zwischen Männern, nicht Frauen, vor und grenzte den Ahndungsbereich strikt auf beischlafähnliche Handlungen ein. Außerdem waren Strafen zum Schutz von Jugendlichen, sowie in Fällen von Abhängigkeitsverhältnissen, Nötigung und gewerbsmäßigem Angebot gleichgeschlechtlicher Handlungen vorgesehen. Der Entwurf dieses deutsch-österreichischen Strafrechts wurde zwar 1927 fertiggestellt, jedoch nie verabschiedet. Vgl. ebd.
Aufgrund dieser historischen Kontinuität in der Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen wurden in Österreich, anders als im Großteil der europäischen Staaten, auch gleichgeschlechtliche Handlungen nicht nur zwischen Männern, sondern auch zwischen Frauen strafrechtlich verfolgt. Zu einer folgenschweren Änderung der Rechtsauslegung des § 129 Ib kam es im Jahr 1902 durch einen Entscheid des Kassationsgerichtshofes, der eine besonders extensive Auslegung der geltenden Rechtslage verankerte. Konkret wurden nicht nur beischlafähnliche Handlungen, sondern eine breite Palette gleichgeschlechtlicher sexueller Praktiken in den Bereich dieses Straftatbestandes einbezogen – eine Auslegung, die als ständige Rechtsprechung de facto bis zur Aufhebung des § 129 Ib im Jahr 1971 Gültigkeit behielt. 17Der Wandel in der Beurteilung gleichgeschlechtlicher Handlungen dürfte dabei insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Debatten zum Thema Sexualität zu sehen sein und durch „einen Paradigmenwechsel in der Sexualwissenschaft, die den Fokus zunehmend auf die sexuelle Lust anstatt die sexuelle Handlung richtete“, begründet worden sein. Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, 28.
Auch wenn die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen nach der Ausrufung der Ersten Republik 1918 auf derselben rechtlichen Grundlage basierte, kam es zwischen 1852 und 1938 zu drastischen Änderungen bei der Art und Weise der Verfolgung dieses Tatbestandes. Anhand verschiedener Kriminalstatistiken lässt sich feststellen, dass es zwischen den 1870er- und 1920er-Jahren zu einer Verzehnfachung der polizeilich ermittelten Tatverdächtigen kam. 18Vgl. Hans-Peter Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“. Die Beseitigung des Totalverbots homosexueller Handlungen in Österreich durch die Strafrechtsreform 1971, in: Martin J. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht. Eine Quellensammlung zu lesbisch- schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002 (Graz 2011), 48. Insbesondere in Wien kam es nach 1918 zu einer deutlichen Zunahme der Verfolgung nach § 129 Ib, die bis zu einem gewissen Grad auch Rückschlüsse auf die Situation in Restösterreich zulässt.
Wichtige Rückschlüsse auf die Verfolgungslage in der Ersten Republik geben dahingehend die Arbeiten des, einer Entkriminalisierung ablehnend gegenüberstehenden, Juristen und späteren Dekans der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Roland Graßberger, der im Zuge der Debatten zur Kleinen Strafrechtsreform 1970/1971 dem Nationalrat umfassende Auswertungen zur Anwendung des § 129 Ib vorlegte: Demzufolge wurden zwischen 1923 und 1937 jährlich im Durchschnitt 435 Personen wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht verurteilt – knapp über 2 Prozent davon waren Frauen. 19Vgl. Protokoll des Unterausschusses des Justizausschusses (8.3.1971), Beilage: Roland Graßberger, Die kriminologischen Aspekte der gleichgeschlechtlichen Unzucht. Dieser Durchschnittswert sollte aber nicht von einem chronologischen Anstieg der Verfolgungszahlen ablenken: Während es 1922 noch zu 233 Verurteilungen kam (4 davon betrafen Frauen), erreichte diese Zahl im Jahr 1926 einen Höchstwert von 470 Verurteilungen (davon 7 Frauen) und blieb bis zum Jahr 1932 kontinuierlich bei über 400 pro Jahr. 20Vgl. Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, 54. Es lässt sich daher feststellen, dass Österreich in der Ersten Republik tatsächlich „weltweit und mit großem Abstand zu vergleichbaren Ländern (…) der Spitzenreiter der Homosexuellenverfolgung war“. 21Rainer Hoffschildt, Internationaler Vergleich der Homosexuellenverfolgung 1920-1938: Österreich an der Weltspitze, in: Lambda-Nachrichten, Nr. 1/1997 (Wien 1997), 19.
Besonders deutlich wird diese Tatsache im direkten Vergleich:
„In den frühen 1930er Jahren gab es in Österreich bei 6,8 Mio. Einwohnern jährlich ca. 400 Verurteilungen, in England und Wales bei 40 Mio. Einwohnern ca. 300 Verurteilungen und in Deutschland bei 62,4 Mio. Einwohnern ca. 800 Verurteilungen.“ 22Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, 54.
Eine weitere Intensivierung der Verfolgung nach § 129 Ib erfolgte nach der Ausschaltung des Parlaments 1933 und der Ausrufung des Ständestaates 1934. Es kam in dieser Zeit zu 502 Verurteilungen (davon 7 Frauen) im Jahr 1934, 444 Verurteilungen (davon 6 Frauen) im Jahr 1935, 537 Verurteilungen (davon 5 Frauen) im Jahr 1936 und 544 Verurteilungen (davon 10 Frauen) im Jahr 1937. 23Ebd.
Ein Spezifikum der österreichischen Rechtsprechung ab der Ersten Republik stellten neben der Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Handlungen unter Frauen auch die Bestimmungen des § 128 StG dar. Als „Schändung“ wurde damit sexueller Missbrauch von Unmündigen und Wehrlosen geahndet, „wenn diese Handlung nicht das im § 129, l b) bezeichnete Verbrechen bildet“. Das Spannungsfeld zwischen den §§ 128 und 129 äußerte sich insbesondere in der Zielsetzung beider Bestimmungen: Während § 129 Ib das Ziel eines Schutzes der Sittlichkeit an sich verfolgte, diente § 128 primär dazu, Individuen vor Missbrauch durch andere zu schützen. Das führte praktisch dazu, dass beispielsweise unmündige Personen in Fällen von Handlungen nach § 129 mit mündigen Personen nicht als Opfer anerkannt werden konnten. 24Vgl. Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, 74.
Auch in der Zeit des Nationalsozialismus blieb im österreichischen Gebiet das Strafgesetzbuch des Jahres 1852 formell in Kraft. Es kam jedoch zu einer erneuten Verschärfung der Verfolgungslage: Zwar wurde bei gleichgeschlechtlichen Handlungen die Ahndung nach dem österreichischen § 129 „zwischen 1938 und 1945 in formaler Hinsicht aufrecht erhalten, seine Vollstreckung [ist] hingegen dem deutschen § 175 angeglichen worden, was zu verschärfter Verfolgung, stark steigenden Verurteilungen, zu Deportationen in Konzentrationslager und unzähligen Ermordungen geführt hatte“. 25Matti Bunzl, Symptome der Moderne. Juden und Queers im Wien des späten 20. Jahrhunderts (Freiburg 2004), 95. Obwohl es in juristischen Kreisen anfängliche Debatten über die Folgen der Aufrechterhaltung der österreichischen Rechtslage gab, stellte das offizielle SS-Organ Das schwarze Korps bereits 1940 fest, dass österreichische Gesetze eingehalten werden müssten und es die Aufgabe der Richter sei, jedwede Person zu bestrafen, die „andere zur Erregung oder Befriedigung seiner widernatürlichen Triebe – gleich unter welchen Umständen – (...)“ verführe. Günter Grau, Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung (Frankfurt a.M. 2004), 167. Während die Verfolgung nach § 129 zuvor vor allem mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Sittlichkeit begründet wurde, stand die Verfolgung während der NS-Zeit im Zeichen biologisch-völkischer Gründe – verfolgt wurde der „Staatsfeind und Volksschädling, der aufgrund seiner Entartung, seine Manneskraft nicht nutze, um ein gesundes Volk zu gründen, sondern sich seiner Wollust hingab und unzüchtige Handlungen setzte“. 26Vgl. Kreiner, Die Entkriminalisierung der Homosexualität in Österreich, 34.
Auch die mündliche Aufforderung zu gleichgeschlechtlichen Handlungen wurde als versuchte Tat geahndet. 27Vgl. Kreiner, Die Entkriminalisierung der Homosexualität in Österreich, 32. Die zugänglichen Statistiken zeigen zwar, dass Frauen während der nationalsozialistischen Herrschaft ebenfalls nach § 129 verfolgt wurden, wenn auch weniger konsequent und nicht so hart wie Männer. 28Vgl. Natascha Bobrowsky, „Ich nehme an [...], dass sie ein Mannweib ist. Verfolgung und Stereotypisierung homosexueller Frauen in Gerichtsakten zu § 129 Ib StG, in: Andreas Brunner/Hannes Sulzenbacher (Hg.), Homosexualität und Nationalsozialismus in Wien (Wien 2023), 95-114. Dass die praktischen Verschärfungen des § 129 dennoch Auswirkungen auf Frauen hatten, unterstreicht Kirchknopf beispielsweise mit einem Fall aus Wien vom April 1940, der zeigt, dass Frauen durchaus „verurteilt wurden für Handlungen, die nach der alten Rechtsprechung nicht dem Tatbild des § 129 Ib StGB entsprachen“. Gleichzeitig muss beachtet werden, dass Frauen während der NS-Herrschaft oft als zu gleichgeschlechtlichen Handlungen verführt angesehen wurden und ihnen aufgrund der zugeschriebenen reproduktiven Bedeutung, eher Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung zugestanden wurden. Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, 73 ff.
Auf Basis dieser Entwicklungen kam es nach dem Anschluss Österreichs an das NS-Reich zu einer erneuten Steigerung der Verurteilungen nach § 129 Ib. Hochrechnungen auf Basis der Kriminalstatistiken und Militärurteile lassen dahingehend auf folgende Zahlen schließen: 29Diese Hochrechnungen basieren auf den bekannten Daten hinsichtlich der Anzahl von Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen in Wien und von Verurteilungen wegen aller Sittlichkeitsdelikte in der ‚Ostmark‘. Weingand errechnet auf dieser Basis die Zahl der Verurteilungen nach § 129 unter Bezugnahme auf Erfahrungen über den Anteil von Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen an der Gesamtzahl der Sittlichkeitsdelikte in Wien und Rest- Österreich. Die Zahl der Militärurteile lässt sich aus der Kriminalstatistik der Wehrmacht und dem Anteil der Österreicher darin hochrechnen. Vgl. Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, 53 ff. Im Jahr 1939 kam es zu 690 Verurteilungen, im Jahr 1940 zu 650 Verurteilungen, im Jahr 1941 zu 640 Verurteilungen, im Jahr 1942 zu 500 Verurteilungen, im Jahr 1943 zu 470 Verurteilungen, im Jahr 1944 zu 370 Verurteilungen und im Jahr 1945 zu 170 Verurteilungen. 30Vgl. ebd., 54. Wie aus diesen Zahlen hervorgeht, kam es nach einer deutlichen Steigerung der Verfolgungszahlen nach 1938 ab 1942 zu einem Abflauen, das insbesondere durch die Wende des Zweiten Weltkriegs 1942 begründet werden kann.
Eine besondere Rolle in der Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen nach 1938 kam der Gestapo zu. Bereits 1934 hatte diese in Deutschland mit der Schaffung so genannter „Rosa Listen“ begonnen, in denen die Namen all jener Personen gesammelt wurden, die wegen des Verdachts auf Homosexualität verfolgt wurden. 31Vgl. Kreiner, Die Entkriminalisierung der Homosexualität in Österreich, 32. Auch in Österreich kam eine ‚Homosexuellen-Kartei‘ spätestens nach dem Anschluss zum Einsatz und bildete teilweise die Grundlage für die Kontinuität der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller nach 1945. 32Laut Maximilian Edelbacher, dem ehemaligen Leiter des Wiener Sicherheitsbüros, blieb die Homosexuellenkartei bis zur Auslösung des Sicherheitsbüros 2002 bestehen. Vgl: Maximilian Edelbacher, Schwule und Lesben in Wien aus Sicht der Polizei, in: Andreas Brunner/Ines Rieder/u.a., Geheimsache: Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts (Wien 2005), 42f.
Zusätzlich zur generellen Steigerung der Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Handlungen durch Polizei und Gestapo wurden auch in Österreich Sondergerichte, beispielsweise am Wiener Oberlandesgericht, eingerichtet, die eine Verurteilung von Beschuldigten ohne Berufungsmöglichkeiten durchführen konnten und wie im Fall von Franz Doms auch Todesurteile aussprachen. 33Vgl. Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, 75. Eine weitere Komponente stellte ab 1939 die Anwendung des, in Deutschland bereits 1933 eingeführten, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dar. Auf dieser Basis wurden an Männern Kastrationen durchgeführt – die freiwillige Einwilligung dazu stellte für viele Betroffene die einzige Alternative zur Einweisung in ein Konzentrationslager dar. 34Vgl. Kreiner, Die Entkriminalisierung der Homosexualität in Österreich, 34.
Kapitel 2: Homophobe Strafverfolgung in der Zweiten Republik – vom Kriegsende bis zur Kleinen Strafrechtsreform (1945-1971)
„Während der ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik hatte sich der österreichische Staat energisch gegen die ‚homophile Minderheit‘ gerichtet, indem er gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen kriminalisierte und unter schwere Strafe stellte. Folglich setzte der Nachkriegsstaat den auf Ausgrenzung beruhenden Prozeß der virulenten Staatsbildung fort, der mit der Erniedrigung und Ausgrenzung Homosexueller bereits im späten 19. Jahrhundert begonnen hatte und auch im nationalsozialistischen Streben nach totaler ‚nationaler Reinigung‘ ein wichtiger Bestandteil gewesen war.“ 35Bunzl, Symptome der Moderne, 94.
Auch das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn der Zweiten Republik im Jahr 1945 stellten keine Unterbrechung bei der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller in Österreich dar. Gerade für diese Gruppe kann attestiert werden, dass viele Mechanismen der Verfolgung nahezu nahtlos von der demokratischen Republik übernommen und weitergeführt wurden. 36Vgl. Andreas Brunner/Hannes Sulzenbacher, „Wiedergutmachung kein Thema“. Zur Geschichte der Homosexuellenverfolgung in Österreich nach 1945, in: Einsicht 2020. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (Frankfurt 2020), 34-42. Das Kontinuum der Verfolgung sorgte dafür, dass die Lebensrealität zahlreicher Homosexueller auch in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik von Scham, Gefahr und Unsichtbarkeit geprägt waren:
Isolation und Verdrängung resultierten daraus genauso wie nachträgliche Stigmatisierung und die Unfähigkeit zu trauern. Dies galt oft auch für jene, die die NS-Jahre unerkannt und im Verborgenen verbracht hatten (…).“ 37Franz X. Eder, Homosexualitäten. Diskurse und Lebenswelten 1870-1970 (Wien 2011), 93.
Von einer raschen Anerkennung Homosexueller als Opfergruppe des Nationalsozialismus konnte nach 1945 keine Rede sein. 38Zwar wurde im Jahr 1984 die weltweit erste Gedenktafel für homosexuelle Opfer der NS-Herrschaft im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen errichtet, Homosexuelle und die so genannten ‚Rosa- Winkel-Häftlinge‘ blieben jedoch über Jahrzehnte aus der offiziellen Gedenkkultur der Zweiten Republik ausgeschlossen. Vgl. Elisa Heinrich, Marginalisierte Erinnerung. Auseinandersetzung um homosexuelle NS-Opfer im Nachkriegsösterreich, in: Zeitgeschichte 43/2, Marz/April 2016 (2016), 101. Erst 1991 nahm Bundeskanzler Franz Vranitzky als erster Vertreter des offiziellen Österreich Bezug auf homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus: „Juden, Zigeuner, körperlich oder geistig Behinderte, Homosexuelle, Angehörige von Minderheiten, politisch oder religiös Andersdenkende – sie alle wurden Opfer einer entarteten Ideologie und eines damit verbundenen totalitären Machtanspruchs.“ Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 35. Sitzung der XVIII. GP (8., 9.7.1991), 15. Erst seit 2005 sind Homosexuelle auch im Sinne des Opferfürsorgegesetzes als Opfer des nationalsozialistischen Regimes anspruchsberechtigt. Bis heute liegen besonders in Österreich auch vergleichsweise wenige Eigendokumente von homosexuellen NS- Opfern vor – die anhaltende strafrechtliche Verfolgung sorgte dafür, dass „bis in die 1970er-Jahre kaum Zeugnisse von Personen öffentlich [wurden], die aufgrund von Homosexualität verfolgt worden waren“. 39Heinrich, Marginalisierte Erinnerung, 104. Insgesamt kann festgestellt werden, dass „in der öffentlichen Diskussion […] bezüglich der Homosexualität eine Analogie zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit unübersehbar“ war. 40Bunzl, Symptome der Moderne, 98.
Kapitel 2.1: Die Strafverfolgung Homosexueller in der direkten Nachkriegszeit
Der Systemwechsel hatte für viele Betroffene von anti-homosexueller Strafverfolgung sehr direkte Konsequenzen: Jene Personen, die während der NS-Zeit verurteilt worden waren, blieben nach 1945 weiterhin vorbestraft und mussten als ‚Kriminelle‘ mit den sozialen Folgen ihrer Verurteilung im nationalsozialistischen System leben. Von der Opferfürsorgegesetzgebung blieben sie ausgeschlossen, auch die Aberkennung akademischer Titel und ausgesprochene Berufsverbote blieben aufrecht. Die Anrechnung erlittener Haftstrafen auf die Pension blieb dieser Personengruppe verwehrt. 41Vgl. Eder, Homosexualitäten, 98. Eder führt in diesem Kontext beispielsweise den Fall des Wieners Erwin Widschwenter an, der im Gefängnis Stein inhaftiert war, und dem nach seiner Freilassung 1946 die Rückkehr in den öffentlichen Finanzdienst wegen seiner Verurteilung verwehrt worden war. Generell zeigen andere Fälle, „in denen nach 1945 Vorstrafen oder Reststrafen aus der NS-Zeit fällig wurden“, dass es 1945 keinen Systembruch bei der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller gab. Ebd. Rechtlich war die Aberkennung akademischer Grade wegen einer Verurteilung nach § 129 bis 1974 möglich. An der Universität Wien wurde auf diesem Weg zwischen 1890 und 1971 insgesamt 21 Personen die Doktorwürde entzogen, der letzte Fall ereignete sich im November 1971 – mehrere Monate nach dem Ende des Totalverbots der Homosexualität. Andere Sanktionen konnten den Entzug des Führerscheins umfassen. Diese Maßnahme ging auf ein Urteil des VwGH aus 1962 zurück und wurde damit begründet, dass das Fahrzeug zur Tathandlung nach § 129 genutzt worden war. Vgl. Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 17. Welche sozialen Folgen eine Verurteilung nach § 129 für Betroffene hatte, zeigt der Beginn des Engagements des späteren Generalsekretärs der Liga für Menschenrechte, Erich Körner, der sich bereits 1945 gemeinsam mit dem einflussreichen Aktivisten Wolfgang Benndorf gegen öffentliche Aushänge von Namen, Daten und Adressen betroffener Studenten an der Universität Graz einsetzte und solche Aktivitäten schließlich unterbinden konnte. Vgl. Hans-Peter Weingand, „Einer feindlich gesinnten Majorität entgegentreten“. Homosexuellen-Bewegung in der Steiermark, in: Maria Froihofer (Hg.), L[i]eben und Begehren zwischen Geschlecht und Identität (Wien 2010), 73.
Aus rechtspolitischer Sicht wurde dieses Vorgehen mit der Fortführung der gängigen Rechtspraxis der Ahndung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen begründet. Abseits weniger Briefe, die großteils anonym an das Bundesministerium für Justiz gerichtet wurden, gab es kaum wirksamen öffentlichen Diskurs zu dieser Thematik – für die Betroffenen kam ein öffentliches Aussprechen gegen die Kontinuität der Verfolgung einer Selbstdenunziation gleich. 42Vgl. Eder, Homosexualitäten, 98.
Ein erster erhaltener Brief erreichte das Bundesministerium für Justiz schon am 10. April 1946. Darin „erlaubt sich […] einer der wehrend des N.S. Regime nach § 129 verurteilt wurde […] seine Erlebnisse im Zuchthaus bekanntzugeben und dem Herrn Minister untertenigst die Bitte [zu] unterbreiten im Namen viele unglücklicher Menschen die nach denselben Paragrafen ins Gefängnis wandern mussten um eine Lockerung des Paragrafen in demokratischen Sinne“. 43AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Z. 10710 (10.4.1946) Das Schreiben wurde eingelegt, eine Antwort an den Einschreiber ist nicht vermerkt.
Mit Blick auf die strafrechtliche Verfolgung nach § 129 kann für die ersten Jahre der Zweiten Republik ein leichter Rückgang der Verurteilungszahlen festgestellt werden. Bedingt durch die politischen Nachkriegswirren sank die Zahl der Verurteilungen vom Höchstwert im Jahr 1939 (690) wie bereits erwähnt im Jahr 1945 auf 170 und im Jahr 1946 auf 64. Aufbauend auf die genannten Gutachten von Roland Graßberger kann aber ab 1948 wieder ein deutlicher Anstieg festgestellt werden: Die Verurteilungen erreichten mit 712 im Jahr 1952, 741 im Jahr 1953, 780 im Jahr 1954 und 815 im Jahr 1955 neue Rekordwerte. 44Vgl. Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, 54.
Auch verglichen zu anderen Ländern, die nach 1945 noch ein Totalverbot von Homosexualität exekutierten (beispielsweise Westdeutschland und England) lag Österreich, wenn auch nicht mehr so deutlich wie in der Ersten Republik, an der Spitze. Zu beachten ist dabei, dass „in den Jahren 1952-1956 und 1959-1960 die Verurteilungszahlen deutlich über dem Höchststand […] während der NS-Zeit lagen“. 45Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, 76. Der Anteil der verurteilten Frauen betrug zwischen 1945 und 1971 rund 5 Prozent. 46Vgl. ebd., 79.
Dieselbe Steigerung der Verfolgung Homosexueller kann nach 1945 auch im Bereich der polizeilichen Ermittlungen wegen § 129 festgestellt werden: Mit 1.317 ermittelten Tatverdächtigen im Jahr 1953 und 1.337 im Jahr 1954 wurden auch in diesem Bereich rasch neue Spitzenwerte erreicht. Die Zahl der polizeilichen Tatverdächtigen blieb bis 1969 durchwegs über 650 Personen pro Jahr. 47Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, 55
Hinsichtlich der Verurteilungen wurden gegen rund 90 Prozent der Verurteilten Freiheitsstrafen ausgesprochen, rund ein Drittel wurde unbedingt verurteilt. Aufgrund der vergleichsweise hohen Mindeststrafe von einem Jahr im Fall einer Verurteilung machten zahlreiche Richter*innen vom „außerordentlichen Milderungsrecht“ Gebrauch, was dazu führte, dass das Strafmaß zwischen 1951 und 1971 in mehr als zwei Drittel der Fälle zwischen einem und sechs Monaten betrug. 48Vgl. ebd., 59 ff.
Statistik der Verurteilungen und Freiheitsstrafen wegen § 129 I StG.: 49Berechnungen aus der Kriminalstatistik 1951/52 ff. durch Hans-Peter Weingand, zitiert nach: Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik, 61.
Jahr | Verurteilungen | Anteil der Freiheitsstrafen in % | Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen in % |
---|---|---|---|
1951/ 1952 | 1271 | 90,1 | 40,1 |
1953 | 741 | 90,8 | 43,1 |
1954 | 780 | 89,0 | 37,2 |
1955 | 815 | 89,3 | 37,4 |
1956 | 691 | 90,3 | 33,7 |
1957 | 665 | 86,3 | 40,0 |
1958 | 523 | 88,3 | 34,0 |
1959 | 715 | 92,3 | 38,6 |
1960 | 731 | 89,3 | 42,1 |
1961 | 640 | 87,5 | 41,4 |
1962 | 659 | 89,8 | 35,4 |
1963 | 542 | 88,2 | 38,8 |
1964 | 487 | 87,5 | 41,9 |
1965 | 523 | 93,7 | 37,3 |
1966 | 502 | 87,9 | 35,1 |
1967 | 540 | 93,2 | 36,9 |
1968 | 478 | 93,9 | 40,0 |
1969 | 445 | 91,7 | 37,8 |
1970 | 459 | 94,8 | 37,9 |
1971 | 191 | 92,1 | 34,9 |
Im Sinne einer historischen Kontextualisierung müssen, wie Kirchknopf ausführt, die absoluten Verurteilungszahlen auch in den Kontext einer steigenden Gesamtbevölkerung gesetzt werden:
„Diese (…) Daten deuten darauf hin, dass die Verurteilungszahlen in Österreich nach 1945 wohl sehr hoch waren und in absoluten Zahlen den Höchststand der Verurteilungen während der NS-Zeit überstiegen, dass jedoch im Verhältnis zur gesamten Strafverfolgung, die Intensität der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen zu keiner Zeit höher war, als während der NS- Zeit.“ 50Kirchknopf, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Österreich im 20. Jahrhundert, 77. Die quantitative Gegenüberstellung der Verurteilungen nach § 129, verglichen zur Gesamtzahl der Strafverfahren, zeigt, dass die Ahndung gleichgeschlechtlicher Handlungen in der NS-Zeit 2,1 Prozent der Strafverfahren ausmachte. Zwischen 1945 und 1971 betrug dieser Wert durchschnittlich 1,5 Prozent, was jedoch deutlich über dem Wert von 1,05 Prozent zwischen 1932 und 1937 lag. Vgl. ebd., 79.
Aus sozialstruktureller Perspektive zeigen Analysen außerdem, dass eine Kontinuität hinsichtlich der Überrepräsentation von Unterschichtsangehörigen als Kontinuum zwischen der NS-Zeit und der Zweiten Republik festgestellt werden kann. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde insbesondere die Gruppe der ‚gering ausgebildeten Arbeiter‘ besonders stark verfolgt, in der Zeit nach 1945 standen vor allem ‚ungelernte Arbeiter‘ im Fokus der Verfolgung. In beiden Zeiträumen stellten öffentliche Angestellte die zweitgrößte Gruppe der Verfolgten dar. 51Vgl. Philipp Korom/Christian Fleck, Wer wurde als homosexuell verfolgt? Zum Einfluss sozialstruktureller Merkmale auf die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller in Österreich während des Nationalsozialismus und der Zweiten Republik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 64 (Wiesbaden 2012), 770.
Die bereits dargelegte rechtliche Unschärfe des § 129 führte vor diesem Hintergrund insbesondere zu Beginn der Zweiten Republik zu sehr variierenden und vielfältigen Auslegungen durch einzelne Richter. Eine große richterliche Freiheit bei der Urteilsbegründung gehörte in diesem Zeitraum daher genauso zur Realität der Strafverfolgung von Homosexuellen wie eine häufige Bezugnahme auf richterliches Alltagswissen und Vorannahmen. Die Auswertung einzelner Fälle zeigt, dass Aussagen von Beschuldigten über die Entsagung von Geschlechtsverkehr in der Ehe als Milderungsgrund genauso angenommen wurden, wie die Feststellung eines Angeklagten, „daß durch seine lange KZ-Haft die widernatürliche Veranlagung begünstigt wurde“. 52Strafakt LN190/54-1967. Zitiert nach: Albert Müller/Christian Fleck, ‚Unzucht wider die Natur‘. Gerichtliche Verfolgung der „Unzucht mit Personen gleichen Geschlechts“ in Österreich von den 1930er bis zu den 1950er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 9. Jg., Heft 3/1998 (Wien 1998), 407. Eine von Müller und Fleck vorgenommene qualitative Auswertung von Gerichtsakten unterstreicht, dass sich nach 1945 ein Trend zu vulgär- psychologischen Begründungen und der Verbindung von Homosexualität mit anderen Formen von deviantem Verhalten einstellte:
„So unterschiedlich sie [die Urteilsbegründungen] im Einzelfall aussehen mochten, ihr gemeinsames Merkmal war jedenfalls ihr Synkretismus: Fast nach Belieben mischten sie Vererbungslehre mit Annahmen über Sozialisationseffekte, Physiognomiken mit Zerrüttungstheorien etc.“ 53Ebd., 406.
Bezüglich möglicher Debatten über grundlegende Reformen der Strafrechtsbestimmungen zur Homosexualität, insbesondere über ein Ende des Totalverbots gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen, kann zu Recht festgestellt werden, dass „in den 1950er-Jahren ein derartiger Gedankengang in der breiten Öffentlichkeit nahezu unvorstellbar“ war. 54Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 18. Dieser Umstand spiegelte sich auch in der politischen und parlamentarischen Debatte über diese Thematik wider. In Anlehnung an die Ausführungen von Wolfgang Benndorf, dem früheren Direktor der Universitätsbibliothek Graz und einem der wenigen öffentlichen Advokaten für die Entkriminalisierung von Homosexualität, kann die Zeit zwischen 1945 und dem Ende der 1950er-Jahre daher treffend als Zeit des „Tabus“ betrachtet werden. 55Im Rahmen seiner Ausführungen zu „Demokratie und Tabu“ in den Debatten über Homosexualität stellte Benndorf in seinem bahnbrechenden Werk Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht fest: „Demokratie ist Diskussion, Tabu ist aber Schweigen. Daher bedeutet das Tabu eine Lücke in der Demokratie. (...) Alle Gutgesinnten, die die Demokratie lieben und ein Leben in der Diktatur nicht für lebenswert erachten, sollten sich einmal klarmachen: Für all jene Menschen, deren elementare Lebensbedürfnisse von einem Tabu wie dem der Hst [Homosexualität] belastet sind, bleibt auch die freie Welt eine Diktatur.“ Benndorf, Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht, 31.
Eine der wenigen Vereinigungen, die sich am Beginn der Zweiten Republik, auch gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen für ein Ende des Totalverbots durch § 129 einsetzte, war die politisch gut vernetzte und durch einflussreiche Mitglieder unterstützte Österreichische Liga für Menschenrechte. 56Die Österreichische Liga für Menschenrechte wurde als älteste Menschenrechtsorganisation Österreichs im Jahr 1926 gegründet und löste sich 1938 selbst auf. Nach ihrer Wiedergründung 1946 setzte sie sich „für einen universellen Menschenrechtsschutzgedanken ein und bearbeitete demgemäß ein breites Feld menschenrechtsrelevanter Fragen“. Christopher Treiblmayr, „... mit dem heutigen Begriffe der Menschenrechte unvereinbar.“ Zum Engagement der Österreichischen Liga für Menschenrechte für Homosexuelle, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 55/56, Dezember 2016 (2016), 50. Bereits in der Zwischenkriegszeit thematisierte die Liga mittels einer Petition das Thema Homosexualität und wurde dabei u.a. von prominenten Mitgliedern wie Rosa Mayreder, Josef Hupka und Ernst Lothar unterstützt. Der § 129 wurde dabei unter anderem mit Verweis auf die „furchtbarste Folge (...) Erpessertum (kritisiert, Anm.), mit dem auch die Polizei offiziell rechnet und das viele Homosexuelle sogar zu Selbsttötung treibt“. Petition Otto Ekstein, OStA, zitiert nach: Treiblmayer, „... mit dem heutigen Begriffe der Menschenrechte unvereinbar.“, 52. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich die Liga ab 1948 wieder mit der Thematik und beschloss 1949 einen, vom Vorsitzenden ihres Rechtsbeirats und Landesgerichtspräsidenten entworfenen, Antrag zur Abschaffung des § 129 – unter den Bedingungen des Schutzes von Jugendlichen vor Verführung und des Verbots öffentlicher, unsittlicher Betätigung. Begründet wurde dieser Einsatz unter Verweis auf gängige biopolitische Argumentationen mittels Verweises auf „eine abnormale physiologische Veranlagung (...), für welche der Täter nichts kann“. Presseaussendung (7.12.1949), QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Die politische Stoßrichtung ihres Einsatzes für eine Abschaffung des Totalverbots geht aus internen Diskussionen der Liga aus dem Jahr 1950 hervor: Ein diesbezüglicher Brief an den damaligen Nationalratspräsidenten Leopold Kunschak (ÖVP) wurde formuliert, aber nicht abgeschickt, da Liga-Präsident und SPÖ-Abgeordneter Leopold Zechner seine Unterschrift verweigerte. Der Liga-Vizepräsident und Bundesminister für soziale Verwaltung, Karl Maisel (SPÖ), forderte stattdessen eine „Modifizierung“ von § 129 und das „nicht auf dem Weg über das Parlament, sondern über den Justizminister und die beiden Regierungsparteien“. 57Brief von Hermann Mühlberger an Leopold Zechner (24.1.1950); QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Dieser öffentliche Einsatz für eine Aufhebung des Totalverbots gleichgeschlechtlicher Handlungen führte 1952/1953 zur viel beachteten Publikation einer Serie von Artikeln in der Liga-Zeitschrift Das Menschenrecht unter dem Titel „Dringende Strafrechtsreform“: 58Erich Körner, Dringende Rechtsreformen, in: Das Menschenrecht, Nr. 11-12 Dezember 1952 (Wien 1952), 3-4.
„Was aber erwartet werden muß und bei gutem Willen auch durchführbar ist, ist die ehestmögliche parlamentarische Behandlung und Verabschiedung als Teilnovellen von Reformvorschlägen hinsichtlich Gesetzesstellen, die mit dem heutigen Begriffe der Menschenrechte unvereinbar sind. Man denke z. B. nur an den § 129 b, (sic!) StG., der den gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen erwachsenen Personen unter schwere Strafsanktion stellt, obwohl durch ihn – soferne die Jugend geschützt bleibt und die Beziehungen freiwillige sind – keinerlei Rechtsgut verletzt wird. Hier liegt ein Überbleibsel aus dem Mittelalter vor, das solcherart veranlagte Menschen lebenslang der sexuellen Befriedigung beraubt.“ 59Ebd.
Im Fortsetzungsartikel wurde der Autor, beachtlicherweise angesichts der einflussreichen Mitglieder der Liga und der vorherrschenden Diskurse über Homosexualität, noch deutlicher:
„Schon die Bezeichnung dieses Deliktes als ‚Unzucht wider die Natur‘ ist unrichtig, da die Homosexualität ebenso eine Laune der Natur darstellt wie etwa das Vorhandensein von vierblättrigem Klee. Echte Homosexuelle handeln wohl ‘wider die Norm‘, aber niemals wider die Natur, der sie ja ihre Triebabweichung verdanken. […] Homosexualität hat es zu allen Zeiten, unter allen Rassen und unter allen sozialen Klassen gegeben. Sie ist auch im Tierreich feststellbar. Bisher hat sie noch kein Gesetz, kein KZ. und kein Kirchengebot auszurotten vermocht, aber zahlreiche wertvolle Menschen in Angst, Schande, materielle Not und sogar in den Freitod getrieben.“ 60Erich Körner, Dringende Rechtsreformen. Fortsetzung, in: Das Menschenrecht, Nr. 1-2 Jänner- Februar 1953 (Wien 1953), 1-3.
Neben der Liga für Menschenrechte wurde die Forderung nach einer entkriminalisierenden Strafrechtsreform auf politischer Ebene in den 1950er-Jahren vor allem von Otto Tschadek thematisiert. Der sozialdemokratische Politiker wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum ersten Oberbürgermeister des deutschen Kiel gewählt und zog Anfang 1946 in den österreichischen Nationalrat ein. 61Tschadek (1904-1969) wurde in der Zeit des autoritären Ständestaates als Obmann der Sozialdemokratischen Studenten-Vereinigung Österreichs inhaftiert und war nach Abschluss seines Rechtsstudiums während des Krieges als Mitglied der NS-Marine in Kiel stationiert. Seine Tätigkeit im NS-System wurde lange dahingehend beurteilt, dass er ab 1941 als Oberstabsrichter des Marinegerichts politische Verfolgung weitgehend verhindert hätte. Jüngere Forschungen haben aber gezeigt, dass Tschadek mindestens vier Menschen zum Tod verurteilt hat. Vgl. Peter Mayr, Ex- Justizminister Tschadek war ein „Blutrichter“, in: DerStandard.at (3.10.2010, https://www.derstandard.at/story/1282978899417/ex-justizminister-tschadek-war-ein-blutrichter). Bereits in seiner kurzen Amtszeit als Kieler Bürgermeister setzte Tschadek nach Kriegsende Aktivitäten in der Homosexuellen-Frage: Unter seiner Ägide wurde die erste Ausstellung des Werkes Passion des XX. Jahrhunderts von Richard Grune, einem Rosa-Winkel-Häftling, 1946 in Kiel eröffnet. Vgl. Andreas Brunner, Im Netz der Verfolgung (2.3.2020, https://magazin.wienmuseum.at/homosexuelle-in-der-ns-zeit). Zwischen 1949 und 1952 sowie erneut zwischen 1956 und 1960 war Tschadek als Bundesminister für Justiz tätig und thematisierte die Forderung nach einer Aufhebung des § 129 in dieser Funktion regelmäßig auch öffentlich. In dieser Funktion argumentierte er bereits 1951 in seinem Werk Über die Grenzen der Gerechtigkeit: 62Otto Tschadek, Über die Grenzen der Gerechtigkeit (Wien 1951).
„Das Recht geht von dem vernünftigen Standpunkt aus, daß die Sexualität Privatsache ist, solange nicht Jugendliche gefährdet, die öffentliche Sittlichkeit verletzt wird und solange keine körperlichen Schädigungen im Sinne des Strafgesetzes mit der Vornahme solcher Handlungen verbunden sind. Von diesem berechtigten und begründeten Grundsatz weicht unser Strafgesetz eigentlich nur in einem Punkte ab, im viel diskutierten § 129, der vor allem die Homosexualität unter Strafe stellt. […] Der derzeitige gesetzliche Zustand hat in der Regel nur dazu geführt, daß gewinnsüchtigen Erpressern Tür und Tor geöffnet wird. Schon aus diesem Grunde wäre es zweckmäßig, den § 129 b 63Ebd., 58 ff.
Zwischen seinen Amtszeiten als Bundesminister für Justiz meldete sich Tschadek auch als erster Abgeordneter des Nationalrats zum Thema Homosexualität zu Wort. In seiner Wortmeldung während der Budgetberatungen 1953 stellte er u.a. fest, dass es nötig wäre, die geplante Strafrechtsreform in „stärkerem Ausmass durchzuführen“ und „gewisse Materien des Strafrechtes […] unbedingt den Zeitverhältnissen“ anzupassen:
„Der § 129 b stelle ein absolutes Unrecht dar und habe keinerlei Berechtigung mehr. Letzten Endes sei es in allen Staaten der Welt so, dass jede sexuelle Betätigung straflos ist, wenn sie nicht mit Jugendlichen begangen wird, wenn sie nicht die öffentliche Sittlichkeit gefährdet und wenn sie nicht mit einer körperlichen Schädigung verbunden ist. Es sei daher unbegründet, für eine Abart des Sexuallebens, die noch dazu angeboren ist und gegen die sich die Menschen schwer wehren können, Sonderbestimmungen anzuwenden.“ 64Parlamentskorrespondenz (11.11.1953).
Dass diese Aussagen des zweifachen Justizministers zur Notwendigkeit einer Strafrechtsreform, insbesondere im Bereich des Sexualstrafrechts, durchaus Anklang fanden, zeigen eine ganze Reihe erhaltener Briefe an das Bundesministerium. Im Dezember 1949 wandte sich beispielsweise ein Linzer Obermagistratsrat i.R. an Minister Tschadek und wies auf „eine Bestimmung des Strafgesetzes hin […], die heute völlig veraltet ist und mit dem Grundsatze der Freiheit des Individuums, wie sie der heutige Mensch versteht und vertritt, in größtem Widerspruche steht; es ist der § 129 I b […]“. 65AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Zl. 13213 (5.12.1949) Ein anderer Einschreiber übermittelte dem Minister – „ermutigt durch Ihre Ankündigung einer Reform des Straf-Paragraphen 129 Ib“ und mit dem Zusatz „ich bin nur ein gewöhnlicher Sterblicher und habe Jahre hindurch die Verfolgung der Homosexuellen durch den unglücklichen Paragraphen mit Besorgnis und Bedauern beobachtet“ – die Ergebnisse einer universitären Befragung aus Deutschland zum Anteil Homosexueller an der Gesamtbevölkerung. 66Ebd., Zl. 10658 (9.3.1950)
Generell verzichtete das Bundesministerium auf die Beantwortung derartiger Anfragen und stellte in einem Aktenvermerk zu einem Brief aus dem Jahr 1950 fest:
„In der vorliegenden Eingabe wird die Aufhebung des § 129 I b StG. gefordert. Bei einer künftigen Novellierung des StG. wird auf dieses Problem zurückzukommen sein. Da sich das BM.f.J. auf die Erörterung rechtspolitischer Fragen mit Privatpersonen nicht einlassen kann, wäre von der vom Einschreiter erwarteten Beantwortung der Eingabe 67Ebd., Geschäftszahl 10150/50 (20.1.1950).
Ähnliche Verweise finden sich in Zusammenhang mit den meisten Einschreiben der frühen 1950er-Jahre. In einer der wenigen Beantwortungen eines solchen Schreibens übermittelte das Bundesministerium 1950 einem Wiener Einschreiber, „dass die Beschlussfassung über Gesetze den Organen der Bundesgesetzgebung d.i. dem Nationalrat und dem Bundesrat zusteht“ und dass „ein Gesetzesentwurf betreffend Aufhebung oder Abänderung des § 129 I b StG. […] derzeit bei den gesetzgebenden Organen nicht in Behandlung [steht] und die Einbringung eines solchen Gesetzesentwurfes als Regierungsvorlage […] auch für die nächste Zukunft nicht geplant“ sei. 68Ebd., Geschäftszahl 12962/50. Bemerkenswert sind in diesem Zeitraum eine ganze Reihe direkter Zuschriften, die von der Chefredaktion der Arbeiterzeitung an den Bundesminister übermittelt wurden. 69Vgl. u.a. ebd., Geschäftszahl 11.636/50 (14.6.1950) betreffend den Brief eines Transportarbeiters, der sich an die Arbeiterzeitung (AZ) bezüglich der Forderung nach Aufhebung des § 129 gewandt hatte. Im September 1951 wandte sich AZ-Chefredakteur Pollak erneut mit einem Schreiben an Minister Tschadek und kommentierte dazu: „Lieber Genosse Tschadek! Ich kann nichts anderes tun als den beiliegenden Notschrei an Dich weiterzuleiten. Ich finde, der anonyme Schreiber hat recht.“ Seitens des Ministeriums bewertete man das Schreiben, unter dem Zusatz „Privat und Persönlich“ wie folgt: „Da eine Aenderung des § 129 b StG. dzt. nicht in Aussicht genommen ist und Hr. Chefredakteur Pollak scheinbar keine Antwort erwartet, wäre das Gstk.-falls der Hr.Minister nicht anderes verfügt einzulegen“ Ebd., Geschäftszahl 12370/51 (11.9.1951).
Auch persönlich von Strafverfolgung betroffene Personen wandten sich mit Regelmäßigkeit an das Bundesministerium. Hinsichtlich des Schreibens eines Tiroler Mannes, der nach § 129 StG zu einer unbedingten Kerkerstrafe von fünf Monaten verurteilt worden war, findet sich im Akt des Ministeriums die folgende Bewertung:
„Der Hr. Minister hat schon mehrfach über eine allfällige Abänderung des § 129 I b StG. auch öffentlich gesprochen. Es wäre daher interessant den Strafakt […] kennenzulernen, um zu beurteilen, ob es sich tatsächlich mit den Hintergründen seiner Verurteilung so verhält wie er es schildert.“ 70Ebd., Geschäftszahl 11.733-9/51 (3.7.1951).
In anderen Schreiben wurden dem Ministerium beispielsweise gedruckte Ausgaben des Kinsey-Reports übermittelt – seitens des Ministeriums wurde dazu vermerkt, dass „die Schrift […] offenbar eine gegen die Bestrafung der Homosexualität gerichtete Tendenz“ verfolgt. 71Ebd., Geschäftszahl 12726-9/53 (21.8.1953). Auch seitens der Präsidentschaftskanzlei wurden dem Bundesministerium eine Reihe von Schreiben von direkt Betroffenen zugestellt. 72Vgl. u.a. ebd., Geschäftszahl 10.008-9/54 (13.1.1954) betreffend ein anonymes Schreiben der „Homo- Eroten“ mit Bezugnahme auf die Verhaftung einer Gruppe von Männern in Mürzzuschlag wegen Verstoßes gegen § 129. Zu diesem Anlass zeigt der Aktenvermerk des Bundesministeriums, dass in diesem Fall „unser Herr Minister [Josef Gerö] wg. angeblich zögernder Behandlung des Problems der Homo-Sexualität im Strafrecht angegriffen“ wird und dass es „auch gleich im Zusammenhang mit der kommenden grossen Strafrechtsreform nicht ohne Interesse [wäre] zu erfahren, ob sich unter der grossen Zahl von Personen [...], gg. die in Mürzzuschlag ein Verfahren wg. § 129 I b StG. geführt wird, nicht auch Jugendliche befinden“. Ein entsprechendes Auskunftsansuchen wurde diesbezüglich an die OStA Graz gestellt.
Dass eine rasche Reform des § 129 jedoch, trotz zahlreicher Schreiben an das Bundesministerium, im Jahr 1952 nicht direkt geplant war, zeigt folgender Aktenvermerk:
„Derartige Schreiben sind dem BMfJ. im letzten Jahr wiederholt zugekommen. Sie hängen zum Teil mit einer Äusserung des Herrn BMfJ. Dr.Tschadek zusammen, der bald nach seiner Ernennung zum BMfJ. in einem Vortrag seiner privaten Meinung, es solle die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Liebe auf Verführung Jugendlicher eingeschränkt werden, Ausdruck gegeben hat. Der Herr BMfJ. Dr. Tschadek hatte jedoch mehrmals betont, dass das seine persönliche Ansicht sei und er hat keine Versprechungen in der Richtung einer Änderung des Gesetzes durch eine Regierungsvorlage abgegeben.“ 73Ebd., Geschäftszahl 12674-9/52 (17.10.1952).
Doch nicht nur Unterstützer einer raschen Strafrechtsreform und einer Entkriminalisierung von Homosexualität wandten sich in den 1950er-Jahren an das Justizministerium. Unter den erhaltenen Briefen finden sich auch wissenschaftliche Gutachten – u.a. eines der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik Wien, das zwischen Homosexuellen mit einem „normale[n] Gefühls- und Geistesleben“, „neurotischen Homosexuellen“ und „psychopathischen Homosexuellen“ unterschied und als Option bei wiederholten Vergehen „eine Dauerinternierung […] in einer Anstalt für kriminelle Psychopathen“ forderte 74Vgl. Ebd., Geschäftszahl 10.216-9/54 (28.1.1954). – oder rechtswissenschaftliche Gutachten. 75Vgl. u.a. ebd., Geschäftszahl 13.892-9a/55 (19.12.1955) betreffend Schreiben des Universitätsprofessors Roland Graßberger zur Übermittlung eines Gutachtens an das deutsche Bundesverfassungsgericht, das in den Aktenvermerken des BMJ insbesondere hinsichtlich der Ausführungen zu gleichgeschlechtlichen Handlungen unter Frauen kommentiert wurde. Im Antwortschreiben des Ministeriums bedankte man sich für die „sehr interessanten, auch für die Reform des österr. Strafrechtes bedeutsamen Schlussfolgerungen“. Auch Schreiben von politischen Entscheidungsträgern finden sich in den erhaltenen Akten. So schrieb der SPÖ-Nationalratsabgeordnete Otto Probst 1954 an Justizminister Gerö unter Verweis auf seine Privatmeinung:
„Nach meiner Meinung sollte in der Diskussion über die Strafrechtsreform die öffentliche Erörterung der beabsichtigen Änderungen des Paragraphen über die Homosexualität verhindert werden. Ich nehme wahr, dass die Andeutungen in den Zeitungen einen heillosen Wirrwarr hervorgerufen haben. Die Frauen und die Mütter sind besorgt und die Homosexuellen scheinen sich ‚zu organisieren‘.“ 76Ebd., Zl. 1050-9/54 (9.2.1954).
Einen besonderen Einblick in die Frage einer möglichen Reform oder Abschaffung des § 129 Ib geben zu Beginn der 1950er-Jahre auch die Aktivitäten des bereits erwähnten Grazers Wolfgang Benndorf. Als bestens vernetzter und aufgrund seiner Stellung als ehemaliger Direktor der Universitätsbibliothek Graz, der seine Anstellung vor 1945 aufgrund seines Auftretens gegen den Nationalsozialismus verloren hatte, genoss er besondere Glaubwürdigkeit. Bereits 1953 meldete er sich in der steirischen sozialdemokratischen Tageszeitung Neue Zeit mit seinem Beitrag „Tausendundeine Sittlichkeitsaffäre“ gegen die Verfolgung Homosexueller in der Steiermark zu Wort. 77Vgl. Wolfgang Benndorf, Tausendundeine Sittlichkeitsaffäre, in: Neue Zeit, 20.11.1953 (Graz 1953), 6-7. Durchgehend stand Benndorf auch im Briefwechsel mit politischen Entscheidungsträger*innen. Seinen Einfluss auf die politischen Debatten macht in diesem Kontext u.a. sein Briefwechsel mit dem ÖVP-Abgeordneten Franz Schnitzer deutlich. Diesen bat er in einem Brief 1953 in Bezug auf eine diskutierte Denkschrift an alle Abgeordneten um „eine Andeutung darüber […] auf die Widerlegung welcher Argumente es besonders ankäme, um eine verständnisvollere Haltung der ÖVP herbeizuführen“. 78Brief Benndorf an Gschnitzer (20.11.1953), QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Dieser führte aus, dass er das Gespräch mit anderen ÖVP- Abgeordneten gesucht hatte – konkret „wählte ich mit Absicht streng konfessionelle“ – und dabei „insbesondere dogmatische Bindungen nicht feststellen“ konnte und seine Kolleg*innen als bereit einschätzte, „den Argumenten gegen § 129 StGB Rechnung zu tragen, mit den von Ihnen selbst betonten Einschränkungen“. 79Brief Gschnitzer an Benndorf (24.11.1953), QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. In einem weiteren Brief an Benndorf fragte Gschnitzer mit Hinblick auf die anstehenden Diskussionen des Justizausschusses „Können Sie die Mediziner mobilisieren?“, er hielt die „Situation für günstig“. 80Brief Benndorf an Körner (3.1.1954), QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Im Jahr 1956 legte Benndorf auf Basis dieser Briefwechsel mit dem Buch Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht ein Standardwerk über die Auswirkungen des und die Argumente gegen den § 129 vor. 81Benndorf, Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht.
Kapitel 2.2: Die ‚politisierte‘ Strafrechtsreform
Den Beginn der parlamentarischen Beratungen über eine mögliche Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen markiert der Beschluss des Nationalrats vom 16. Dezember 1953 über die Abhaltung einer Enquete des Justizausschusses „über die Frage der Notwendigkeit einer Strafrechtsreform“. 82Bericht des Justizausschusses, 270 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats VII. GP (16.12.1953). Diese Enquete wurde am 2. April 1954 unter der Leitung von Otto Tschadek abgehalten und lud 28 Expert*innen, von denen sich 22 Teilnehmer*innen für eine „grundlegende Reform des Strafrechts und acht für eine Teilreform ausgesprochen“ haben. 83Hinsichtlich einer grundlegenden Reform des Sexualstrafrechts waren sowohl explizite Gegner einer Entkriminalisierung von Homosexualität, wie der bereits erwähnte Roland Graßberger und der Grazer Kriminologe Ernst Seelig, als auch Proponent*innen, die in intensivem Kontakt mit der Liga für Menschenrechte standen, wie die Professoren Theodor Rittler und Hans Hoff, sowie der Rechtswissenschaftler Friedrich Nowakowski, als Expert*innen geladen. Vgl. Bericht des Justizausschusses, 270 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats (25.5.1954). In seinem Bericht an den Nationalrat betonte Tschadek kurz darauf, dass „viele Redner […] eine Überprüfung der sogenannten Sexualdelikte gefordert [hatten], insbesondere ist eine Anzahl für die Beseitigung des § 129 lit. a und b des Strafgesetzes (Unzucht wider die Natur) eingetreten“. 84Ebd. Der Nationalrat beschloss daraufhin die Einsetzung einer Strafrechtskommission, die im Oktober 1954 im Justizministerium ihre Arbeit aufnahm und sowohl in der medialen und politischen Öffentlichkeit als auch hinsichtlich des Einsatzes von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen wie der Liga für Menschenrechte breite Aufmerksamkeit bekam. 85Die Liga für Menschenrechte übermittelte sowohl 1954 als auch 1956 eigene Vorschläge „Zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrens“ an das Justizministerium. Bereits im ersten dieser Programme nahm die Frage der Homosexualität einen zentralen Stellenwert ein. Gefordert wurden neben der Abschaffung des § 129 weitreichende Folgegesetzgebungen, insbesondere für „Bestimmungen hinsichtlich der männlichen Prostitution“ und einer Ausweitung des entsprechenden § 512 „auf Personen beiderlei Geschlechts“. Brief der Liga für Menschenrechte an Justizminister Gerö (11.6.1954), QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Das zweite Liga-Forderungsprogramm widmete sich 1956 ausschließlich der Homosexualitätsfrage und argumentierte für eine Vorziehung einer Strafrechtsteilreform: Eine solche „vordringliche Reform [...] würde viele, von einer Laune der Natur stiefmütterlich behandelte, sonst aber wertvolle Menschen von schwerer Gewissensangst befreien“. Brief der Liga für Menschenrechte an Justizminister Kapfer (20.2.1956), QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Diese Forderungsprogramme wurden auch an Mitglieder des Nationalrates, die mit Justizpolitik befasst waren, versandt. Während von Vertreter*innen der SPÖ weitgehende Zustimmung signalisiert wurde – die SPÖ-Abgeordnete Marianne Pollak gab an „in dieser Frage sehr weitgehend mit Ihrem Vorschlag konform“ zu gehen – wurde von ÖVP-Vertretern die Zuständigkeit der Bundesregierung betont – ÖVP- Abgeordneter Otto Kranzlmayer schrieb, dass eine Diskussion zu § 129 „nur möglich [sei], wenn eine darauf abzielende Regierungsvorlage eingebracht wird“. Vgl. Brief Pollak an Liga für Menschenrechte (8.3.1956) und Brief Kranzlmayer an Liga für Menschenrechte (28.3.1956), beide QIWEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Auch aus dem Ausland ergingen in diesem Zeitraum immer wieder Gutachten, Vorschläge und Bewertungen an das Justizministerium, die der Strafrechtskommission zur Kenntnisnahme übermittelt wurden. 86So übermittelte Roland Graßberger mehrere Unterlagen, u.a. ein entsprechendes Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit von Homosexualität. Vgl. AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 12.092/9a/57 (24.7.1957). Aufmerksamkeit innerhalb des Bundesministeriums erregte im Jahr 1957 außerdem die Zuschrift eines leitenden Arztes der Nervenabteilung der Poliklinik Dresden, die in einer entsprechenden Aktennotiz eigens vermerkt wurde: „Interessant wäre es zu wissen wieso ein Arzt aus der DDR. über die österreichische Strafrechtsreform unterrichtet ist und ob es Zufall ist, daß dieses Schreiben gerade jetzt, kurz vor der nächsten Strafrechtskommissionssitzung, in der das Problem der Homosexualität behandelt wird, bei uns einlangt.“ AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 12587-9a/57 (9.9.1957)
In einer ersten internen Abstimmung sprach sich die Strafrechtskommission im Jahr 1957 mit zehn gegen zwei Stimmen gegen eine Strafbarkeit einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen aus. 87Vgl. Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 19. Diese Abstimmung kann als Beginn einer intensiveren, öffentlichen Debatte über die Fragen des Sexualstrafrechts – die Zeit der „Politisierung der Reform“ – betrachtet werden. 88Repnik, Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich, 58. Als Höhepunkt dieser Politisierung kann der Strafrechtsentwurf von Justizminister Christian Broda betrachtet werden, der im Nationalratswahlkampf desselben Jahres „schließlich zum Wahlkampfthema [wurde], wobei die ÖVP gegen Broda und dessen Reformvorschläge auftrat“. Ebd. Während sich die Sozialdemokratie vor allem am „Ende der 1960er-Jahre intensiv mit der Strafrechtsreform auseinander[setzte]“ und sich klar für eine Entkriminalisierung von Homosexualität einsetzte, bezog vor allem die Katholische Kirche in dieser Zeit immer stärker Position und wandte sich bereits nach der internen Abstimmung 1957 klar gegen eine Abschaffung des § 129. Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 21. Während auf parlamentarischer Ebene, wie Gössl ausführt, ab Ende der 1950er-Jahre „eine länger andauernde Ruhepause zu diesen Themengebieten“ eintrat, wurde die Diskussion über Reformen des Totalverbots von Homosexualität sowohl öffentlich als auch von der sich stärker organisierenden Zivilgesellschaft zunehmend intensiv geführt. 89Martin J. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht. Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002 (Graz 2011), 81. Erwähnt werden muss in diesem Zeitraum nichtsdestotrotz die 1958 erfolgte Ratifizierung des „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)“, die ab 1964 auch im Verfassungsrang stand. Hinsichtlich der Rechte von Homosexuellen sollten diese Europäische Menschenrechtskonvention und insbesondere ihre Regelungen zum Schutz des Privatlebens (Art. 8) in späteren Jahrzehnten noch besondere Bedeutung erlangen.
Auf Seiten der Zivilgesellschaft etablierten sich in diesem Zeitraum eine Reihe von ausgesprochenen Befürworter*innen einer raschen Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichen Handlungen. Neben dem anhaltenden Engagement der Liga für Menschenrechte und dem großen Einfluss, den die Arbeiten von Wolfgang Benndorf gerade in den späten 1950er- und 1960er-Jahren auf die politischen Diskurse über Homosexualität hatten, erregten insbesondere Eigenzeugnisse von Betroffenen wie Erich Lifka große Aufmerksamkeit. 90Das Archiv der Schweizer Zeitschrift Der Kreis fasst die Rolle Erich Lifkas zu den Diskursen rund um Homosexualität in Österreich wie folgt zusammen: „Erich Lifka war einer der wenigen Österreicher, die nach Kriegsende gegen die gesellschaftliche und juristische Ungleichbehandlung Homosexueller eintraten. (...) Unter verschiedenen Pseudonymen wie Dr. Erich Klostermann, Hans Hagen oder Theo Blankensee veröffentlichte er belletristische und publizistische Beiträge, in denen er seine eigene Situation und homophobe Vorfälle in Österreich thematisierte.“ Der Kreis, http://www.der-kreis.ch/kreis_d/kreis_menschen_d/kreis_mitglieder_d/lifka_mitglied_d.htm Eine ausführliche Analyse zum Leben Lifkas, seinem Einfluss, sowie insbesondere zu den Mythen, die sich um seine Bedeutung ranken, liefert das Zentrum für queere Geschichte Wien. Vgl. Manuela Bauer/Hannes Sulzenbacher: „Mein Name ist Erich Lifka. In Moskau kennt man mich. Eine erfundene Biographie zwischen Abenteuer, Widerstand, Spionage und Pornographie. In: Invertito, Jahrgang 15 (2013), S. 169-196. Benndorfs Bedeutung lässt sich neben seiner journalistischen Tätigkeit insbesondere auf das bereits erwähnte Buch Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht zurückführen, das als Reaktion auf eine Anklage der StA Feldkirch gegen 127 Personen wegen Verstoßes gegen § 129 verfasst wurde. Dieses Buch entwickelte sich in den Folgejahren nicht nur zum Standardwerk der Befürworter*innen einer Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen in Österreich, sondern wurde auch zahlreich an das Justizministerium herangetragen. Eine diesbezügliche Aktennotiz zu Benndorfs Forderungen, insbesondere hinsichtlich einer fließenden Regel im Bereich des Jugendschutzes, kommentierte, dass seine Vorschläge „weit über das hinaus[gehen], was von ernst zu nehmender Seite für den Fall einer Novellierung des § 129 I b StG. bzw. für das neue österr. Strafrecht vorgeschlagen wird“ und stellt fest, dass es zum Thema „Homosexualität, ihre Ursachen, ihre Verbreitung, die Folgen und die Stellung des Strafgesetzes […] zahllose, weit gründlichere und vernünftigere Werke als die vorliegende Broschüre“ gäbe. 91AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 11.371-9/56 (23.4.1956) Eine Einsichtsbemerkung der Abteilung 12 des Justizministeriums ergänzt mit Verweis auf eine frühere Anklage gegen Benndorf wegen dessen öffentlicher Äußerungen gegen die Polizei zum Selbstmordfall eines Angeklagten nach § 129:
„Dr. Wolfgang Benndorf ist im Zusammenhang mit Verfahren nach § 129 I b StG. kein Unbekannter. […] Wenn der Verfasser schreibt […], daß die Einvernahme Homosexueller durch Sicherheitsorgane das natürliche Schamgefühl manchmal in schrecklicher Art verletze, so muß man dem wohl entgegenhalten, daß die Art der gleichgeschlechtlichen Betätigung wohl viel mehr das natürliche Schamgefühl verletzen dürfte als die Einvernahme hierüber.“ 92Ebd.
Als aus der zivilgesellschaftlichen Sicht der 1960er-Jahre besonders bemerkenswert kann, wohl die, wenn auch kurze, Tätigkeit des Verbandes für freie Mutterschaft und sexuelle Gleichberechtigung bewertet werden. Wohl zu Recht wird dieser Verein, der zwischen 1963 und 1967 bestand, nicht nur als erster tatsächlicher Homosexuellen- Verein Österreichs bezeichnet, sondern auch als Vorläufer von Diskursen über verschiedene strafrechtliche Bereiche, insbesondere die Debatten um Homosexualität und Abtreibung. Die zentrale Kraft hinter den Tätigkeiten dieses Verbandes war Franz Xaver Gugg. 93Franz Xaver Gugg (1921-2003) wurde später insbesondere als treibende Kraft in der Homosexuellen Initiative Wien (HOSI Wien) bekannt. In seiner frühen Jugend dürfte er aber eine gewisse Nähe zum NS-System verspürt haben und sagte später selbst: „Ich gehörte zu jenen verblödeten und gläubigen Hitlerjungen, die noch in den letzten Monaten an einen möglichen Sieg glaubten.“ Nach seiner Zeit in der Wehrmacht geriet Gugg in Kriegsgefangenschaft und datierte diesen Zeitraum als „Beginn meiner homosexuellen Betätigung“. In den 1960er-Jahren dürfte er, wie erhaltene Briefe zeigen, Mitglied der SPÖ geworden sein. Vgl. Martin Weber, Ein alter Soldat, in: Lambda Nachrichten 3/2002 (Wien 2002), 42-44. 1967 wurde Gugg wegen sexueller Kontakte zu einem Minderjährigen angeklagt und später verurteilt. In Anspielung auf den Verband titelte das Wiener Wochenblatt „Sexskandal um Wiens Sexpartei – Prominenter Wiener Anwalt auf Abwegen“. Wiener Wochenblatt (24.2.1968), 1. Seine Strafe von zehn Monaten schwerem Kerker musste er 1969 antreten und verlor daraufhin seine Doktorwürde. Nach der Kleinen Strafrechtsreform kämpfte er um seine Rehabilitierung und nach dem Weg zum Verfassungsgerichtshof 1974 wurde ihm schließlich als einzigem Juristen Österreichs die Doktorwürde erneut zuerkannt. Als der „erste sexualreformistische Verein in Österreich“ setzte sich der Verband öffentlich für die Aufhebung des § 129 und in abgeschwächter Form für die Aufhebung des Abtreibungsverbots durch § 144 StG. ein. 94Schwulengeschichte.ch, https://schwulengeschichte.ch/epochen/6-aufbruch/club-68/1971/charlotte-ilona-steurer Dem Auftrag der Vereinsstatuten folgend war die Einflussnahme auf gesetzgebende Körperschaften ein besonderes Ziel des Verbandes – dort fanden sich als Vereinsziele u.a. die „Ausübung des Mandates in gesetzgebenden Körperschaften, die Wahlwerbung hiezu“, sowie publizistische Tätigkeiten. 95Statuten des Verbandes, Archiv der HOSI Wien. Die Zulassung des Verbandes durch die Bundespolizeidirektion Wien erfolgte am 16.7.1963, als Vorsitzender wurde Oswald Ruck angegeben, als seine Stellvertreter neben Gugg auch Walter Groyer und Kurt Neumann. Auch wenn die Tätigkeiten dieses Vereins bis zu seiner, wohl aufgrund fehlender Unterstützung notwendig gewordenen, Selbstauflösung 1967 überschaubar waren, so zeigen zahlreiche Briefwechsel (u.a. zwischen Gugg und dem SPÖ-Vorsitzenden Bruno Kreisky) doch massive diskursive Bestrebungen zur Einflussnahme auf die politischen Entscheidungen rund um die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller. 96Vgl. Brief von Franz Gugg an Bruno Kreisky (12.4.1967), Archiv der HOSI Wien.
Bereits kurz nach Gründung schrieb der Verband auch an Justizminister Broda und bat darin für die zweite Ausgabe der Vereinszeitschrift „um einige Zeilen über die persönliche Meinung des Herrn Ministers – sei sie positiv oder negativ“ – zu einer entsprechenden Veröffentlichung kam es nicht. Gegen die Zeitschrift Emanzipation wurde gemäß der Beurteilung des Ministeriums jedoch auch keine Anzeige wegen möglicher Strafrechtsverstöße eingeleitet. 97AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 18.966-9a/64 (23.7.1964). Hinsichtlich der Vereinszeitschrift vermerkte das Ministerium: „Eine Propagierung der Abtreibung der Leibesfrucht bzw. der gleichgeschlechtlichen Unzucht in einer unter dem Gesichtspunkt des geltenden Strafrechtes relevanten Weise oder auch eine ‚Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht‘ im Sinne des § 258 des Strafgesetzentwurfes 1964 ist nicht feststellbar.“ Ebd. In den Folgejahren kam es zu einem ausführlichen Briefwechsel zwischen dem Verband und dem Justizministerium, in der seitens der zivilgesellschaftlichen Proponent*innen die Forderung nach einem toleranteren Vorgehen bei der Strafverfolgung nach § 129 eingefordert wurde, was seitens der Bundesregierung allerdings abgelehnt wurde:
„Das BMfInneres beantwortet dieses Schreiben mit Note vom 15. September 1964 dahin, daß das Verbrechen nach § 129 Ib StG. nach der derzeitigen Rechtslage ein Offizialdelikt sei, das von den Sicherheitsbehörden gemäß §§ 24 und 84 StPO. unverzüglich zu untersuchen und anzuzeigen sei. Schon aus diesem Grunde seien die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage, im Sinne der erwähnten Anregung bei den diesbezüglichen Erhebungen ‚Toleranz walten zu lassen‘.“ 98Ebd., Geschäftszahl 19.168-9a/64 (18.1.1965).
Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Debatten setzte die Strafrechtsreformkommission ihre Arbeit bis 1962 fort. Dieser Kommission gehört von 1957 bis 1960 auch der sozialdemokratische SPÖ-Bundesrat, spätere Nationalratsabgeordnete und ab 1960 Justizminister Christian Broda an. 99Christian Broda (1916-1987) war in seiner Jugend Mitglied der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler und wurde nach den Februaraufständen 1934 als Aktivist der kommunistischen Jugendbewegung zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach seinem Rechtsstudium war er Mitglied der Wehrmacht, gleichzeitig im kommunistischen Widerstand aktiv und wurde daher 1943 erneut inhaftiert. Vor den ersten freien Wahlen 1945 brach er mit der KPÖ. Als Mitglied der SPÖ gehörte er mit Marianne Pollak, Elisabeth Schilder, Peter Strasser und Karl Mark zu den führenden Stimmen für eine umfassende Strafrechtsreform und konnte dieses Ziel auch im SPÖ-Parteiprogramm 1958 verankern. Vgl. Maria Wirth, Christian Broda. Eine politische Biographie (Wien 2011). In Zusammenarbeit mit der Reformkommission definierte er seine Zielsetzung vor allem dahingehend, „dass das Strafrecht von einer breiten Mehrheit getragen werden, ein neues Strafgesetzbuch auf größtmöglichen Konsens angelegt sein müsse“. 100Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 20. Als Autor zahlreicher Publikationen zur Strafrechtsreform prägte er den Grundsatz:
„Es kann kein Strafgesetz […] der 51 Prozent gegen 49 Prozent der Bevölkerung geben. Solche Vorhaben müssen von der großen Mehrheit unseres Volkes innerlich akzeptiert und bejaht werden oder sie werden scheitern“. 101Christian Broda, Der modernen Gesellschaft ein modernes Strafrecht (Wien 1967), 12.
Dieses Credo zeigte sich auch in den Entwürfen aus seiner Zeit als Justizminister für eine umfassende Strafrechtsreform. Doch während die Reformkommission im Jahr 1960 einen ersten Bericht veröffentlichte, verdichtete sich der politische Widerstand und die Chancen für eine breit getragene Strafrechtslösung im Sinne Brodas nahmen ab:
„Zu sehen ist die Politisierung der Reform in erster Linie vor dem Hintergrund, dass die ÖVP und die katholische Kirche ihr Interesse an der Strafrechtsreform entdeckten sowie an der immer mehr zerbrechenden Großen Koalition. In der ÖVP hatte der Führungswechsel neue Männer an die Spitze der Partei gebracht, die […] deutlich wertkonservativer waren und die liberale Zielsetzung der Strafrechtsreform ablehnten. Vor allem konnte die Strafrechtsreform […] auch zur eigenen ideologischen Profilierung im Zuge einer verstärkten ‚Politisierung der Politik‘ verwendet werden.“ 102Wirth, Christian Broda, 228.
Diese diskursive Verschiebung zeigte sich schon bei der zweiten Lesung des Kommissionsentwurfes für eine Strafrechtsreform im Jahr 1962, als sowohl hinsichtlich der Streichung des § 129 als auch in der Frage des Schwangerschaftsabbruches stärkere Gegenstimmen auftraten. Schlussendlich empfahl die Kommission mit elf gegen fünf Stimmen eine Liberalisierung der Totalverbots gleichgeschlechtlicher Handlungen. 103Dass die Kommission sich in diesen letzten Abstimmungen nicht mehr auf detaillierte Lösungen einigen konnte, zeigte sich insbesondere darin, dass bei umstrittenen Fragen wie dem § 129 nur mehr ohne Debatte abgestimmt wurde, „wenn auch allen Beteiligten klar war, dass der Entwurf somit noch gesetzgeberisch überarbeitet werden musste“. Ebd., 229. Auf dieser Basis erarbeitete das Justizministerium bis 1964 einen 353 Paragrafen umfassenden Gesamtentwurf für ein neues Strafrecht, der von Broda 1965 als Monografie unter dem Titel Die österreichische Strafrechtsreform veröffentlicht wurde. 104Vgl. Christian Broda, Die österreichische Strafrechtsreform (Wien 1965). Konkret sah der Entwurf 1964 folgende Strafbestimmungen vor: Unzucht wider die Natur: § 244 (1) Eine Person männlichen Geschlechts, die mit einem Jugendlichen gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ebenso wird eine Person männlichen Geschlechts bestraft, die gewerbsmäßig gleichgeschlechtliche Unzucht treibt oder sich dazu erbietet. Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht: § 256 Wer öffentlich zur gleichgeschlechtlichen Unzucht auffordert oder gleichgeschlechtliche Unzucht in einer Art gutheißt, die geeignet ist, solche Unzuchtshandlungen nahezulegen, wird, sofern er nicht als an der Unzuchtshandlung Beteiligter (§ 11) mit strengerer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 100.000 S bestraft. In seinen ergänzenden Ausführungen legte der Minister darin auch Hintergründe und Argumente für den Entwurf vor und führte dahingehend unter anderem aus:
„So will der österreichische Entwurf nur strafen, wo es um gesellschaftliche Zwecke willen unumgänglich geboten ist. Nicht alles, was unsittlich oder auch sozialwidrig ist, muß bestraft werden. Die österreichische Strafrechtskommission hat sich zweimal – jeweils mit großer Mehrheit – für die Abschaffung der Strafbestimmungen gegen homosexuelle Betätigung zwischen Erwachsenen ausgesprochen. Die Strafbarkeit des Mißbrauchs junger, noch verbildbarer und prägbarer Menschen zu gleichgeschlechtlicher Unzucht sowie der gewerbsmäßigen Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts soll aufrecht bleiben. Das Bundesministerium für Justiz beabsichtigt, bei der Fertigstellung der Regierungsvorlage dieser Empfehlung der Strafrechtskommission zu folgen. Die Schweiz bestraft bekanntlich ebenfalls nur bestimmte qualifizierte Fälle gleichgeschlechtlicher Betätigung. Österreich strebt eine ähnliche Regelung an.“ 105Ebd., 64 f.
Dieser erste Gesamtentwurf sah eine Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen vor. Begleitend dazu sollten ein Prostitutions- und Werbeverbot, sowie Schutzbestimmungen für Jugendliche eingeführt werden. 106Bemerkenswert an diesem Reformentwurf ist insbesondere die Übernahme des, in den Jahren davor immer häufiger vorgebrachten, Arguments des Schutzes männlicher Jugendlicher – unter Abkehr vom österreichischen Unikum der gleichzeitigen strafrechtlichen Ahndung von männlichen und weiblichen Homosexuellen. So sah der Entwurf in § 256 vor: „Eine Person männlichen Geschlechts, die mit einem Jugendlichen gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bestraft.“ Dass diese Regelung auf die Notwendigkeit der ‚Verführung‘ verzichtete, wurde unter anderem von der Liga für Menschenrechte kritisiert, die davor warnte, dass dies in der Praxis jede Handlung zwischen männlichen Jugendlichen kriminalisieren würde. Obwohl man sich im Justizministerium dieser Tatsache bewusst war, wurde „davon ausgegangen, dass in solchen Fällen nach dem Jugendgerichtsgesetz die Staatsanwaltschaft von einer Bestrafung absehen könnte und das Gericht nur eine Ermahnung erteilte“. Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 20f. Auffällig ist jedoch in diesem Entwurf das Abweichen von den Vorschlägen der Strafrechtskommission, die eine entsprechende Regelung laut ihren Protokollen ganz bewusst auf die ‚Verführung‘ Jugendlicher beschränkte, um das Selbstbestimmungsrecht homosexueller Jugendlicher zu schützen. Auch das hohe Mindeststrafmaß von sechs Monaten widersprach den Empfehlungen der Strafrechtskommission. Bereits rasch nach der Veröffentlichung des Entwurfes sprach sich die katholische Kirche 1964 dagegen aus und setzte eine eigene Katholische Juristenkommission ein. 107Ebd., 21.
Nach einem ausführlichen Begutachtungsverfahren legte das Justizministerium im Jahr 1966 einen überarbeiteten Entwurf für die Strafrechtsreform dar, der klar aus Kompromiss einer Koalitionsregierung von ÖVP und SPÖ gestaltet war. Auch wenn dieser Vorschlag einige Erneuerungen des Entwurfes aus 1964 zurücknahm, blieben die Bestimmungen hinsichtlich der Homosexualität größtenteils unverändert. 108Konkret waren im Strafrechtsentwurf 1966 folgende Strafbestimmungen enthalten: Unzucht mit einer Person des gleichen Geschlechtes: § 228 (1) Wer mit einer minderjährigen Person gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, es sei denn, dass der Täter ein Jugendlicher ist und seinen Partner nicht zur Tat verführt hat. (2) Ebenso wird eine Person bestraft, die gewerbsmäßig gleichgeschlechtliche Unzucht treibt oder sich dazu erbietet. Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht: § 240 Wer öffentlich zur gleichgeschlechtlichen Unzucht auffordert oder sie in einer Art gutheißt, die geeignet ist, solche Unzuchtshandlungen nahezulegen, wird, sofern er nicht als an der Unzuchtshandlung Beteiligter (§ 11) mit strengerer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 50.000 S bestraft. Aufgrund der rasch folgenden Nationalratswahlen und damit der späteren Bildung der ÖVP-Alleinregierung Klaus wurde dieser Entwurf jedoch weder in den Nationalrat eingebracht, noch dort diskutiert oder abgestimmt.
Nachdem die Strafrechtsreform im Wahlkampf 1966 zahlreiche mediale Aufmerksamkeit erhalten hatte, wurde mit dem Beginn der ÖVP-Bundesregierung der Innsbrucker Hans Klecatsky mit den Aufgaben des Bundesministers für Justiz betraut. 109Im Wahlkampf selbst wurde vor allem Broda scharf kritisiert. Von der Kronen Zeitung wurden die Pläne für die Strafrechtsreform als „Geschenk für Schwerverbrecher“ tituliert. Ebd., 27. Dieser hatte gute Verbindungen zu katholischen Juristenkreisen und nahm nach Medienberichten rasch Verhandlungen zur Strafrechtsreform mit der Bischofskonferenz auf, bei denen auch die Frage der Strafbarkeit von Homosexualität diskutiert wurde. 110Ebd., 23 f.
Aktenvermerke des Justizministeriums aus der Zeit der Arbeit am neuen Strafrechtsentwurf der ÖVP-Alleinregierung zeigen auch das Bemühen um internationale Vergleiche. So wurden bereits in Debatten rund um einen Bericht der Salzburger Nachrichten vom 10. Juli 1967, in dem ein Brief des ehemaligen Ministers Tschadek zitiert wurde, Bemühungen angestellt, die Rechtslage in Deutschland, insbesondere in der DDR, zu recherchieren. 111Vgl. AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 18.526- 9a/67 (26.7.1967). Diese Recherche brachte eine Reihe von Briefwechseln mit dem Justizministerium der BRD und dem österreichischen Außenministerium hervor – ein Entwurf der geplanten Strafrechtsreform der DDR konnte jedoch nicht eingeholt werden.
Andere Einschreiber an das Justizministerium beschäftigten sich, wohl angesichts der geänderten politischen Verantwortlichkeit, mit der generellen Frage nach dem Sinn der Strafverfolgung von gleichgeschlechtlichen Handlungen. So wandte sich der Pfarrer der Tiroler Gemeinde Obergurgl 1967 an das Ministerium und stellte klar, dass „jede Homosexualität eine schwere moralische Schuld des Gewissens gegen die Ordnung Gottes ist“ – der Priester verwies jedoch auf eigene Erfahrungen mit dem Problem der Erpressung Homosexueller und fragte, warum „es von der Seite des Staates notwendig ist, diesen moralischen Fehler so drakonisch zu ahnden, daß die unerfreuliche Begleiterscheinung der Erpressung begünstigt werde“. 112Ebd., Geschäftszahl 18.682-9c/67. Justizminister Klecatsky antwortete dem Priester u.a. wie folgt: „Ich stimme mit Ihnen darin überein, daß Homosexuelle leicht das Opfer von Erpressungen werden können, verweise jedoch in dieser Hinsicht auf die Ausführungen des bekannten Wiener Kriminologen Univ.Prof. Dr. Grassberger, der in der Strafrechtskommission vor einer Überschätzung der Erpressungsgefahr gewarnt hat.“
Zu einem Briefwechsel von Justizminister Klecatsky mit der Liga für Menschenrechte kam es im Jahr 1968. Darin korrigierte der Minister eine, aus der Zeitschrift Die Furche zitierte und in der Liga-Zeitschrift Das Menschenrecht abgedruckte, Äußerung, die ihm zugeschrieben wurde – „Es gibt ja nicht nur Homosexuelle, es gibt ja auch andere Menschen“ – mit folgendem Verweis:
„Ich habe lediglich einmal darauf hingewiesen, daß der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches nicht nur für Homosexuelle, sondern auch für andere Bevölkerungskrise von Bedeutung sei. […] Ich war und bin mir vielmehr der menschlichen Problematik der Homosexualität voll bewusst und habe gerade aus diesem Grunde zu wiederholten Malen den Standpunkt vertreten, daß, bevor auf diesem Gebiete legislative Maßnahmen beschlossen werden, die Materie noch einer eingehenden Erörterung im Parlament zu unterziehen sein wird.“ 113Ebd., Geschäftszahl 18.028-9a/68 (9.1.1968)
Gegenüber einer sich 1968 abzeichnenden Neugestaltung der Reformpläne für das Strafrecht argumentierte die sozialdemokratische Opposition vor allem dahingehend, dass keine Strafrechtsreform „sich über die Ergebnisse der Strafrechtskommission hinwegsetzen“ dürfe. 114Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 24. Als Ergebnis der Verhandlungen der ÖVP-Regierung wurde im Frühjahr 1968 der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches vorgelegt, der im Vergleich zum Entwurf von 1966 zahlreiche Verschärfungen, sowie Zugeständnisse an die katholische Kirche enthielt. 115In mehreren Äußerungen führten Vertreter*innen der Bundesregierung hinsichtlich der Vorschläge zum Sexualstrafrecht aus, dass sich medizinische Expert*innen gegen die Beibehaltung der Strafbarkeit von gleichgeschlechtlichen Handlungen ausgesprochen hatten, die juristischen Expert*innen aber dafür – man sei den Jurist*innen gefolgt, da – so der Unterton – die Ärzt*innen bisher noch keine Antworten auf gleichgeschlechtliche Neigungen gefunden hatten. Broda verwies dazu in einem Beitrag in den Salzburger Nachrichten darauf, dass diese Regierungsvorlage in zentralen Punkten auf dem „Eisenstädter Übereinkommen“ vom April 1967 zwischen Justizminister Klecatsky und der Bischofskonferenz beruhte und daher aufgrund seiner Rückschrittlichkeit die parlamentarischen Beratungen dazu massiv einschränkte. Vgl. Salzburger Nachrichten (7.6.1969). Hinsichtlich der Homosexualität regelte § 228 dieses Entwurfs die Strafbestimmungen wie folgt:
„Wer mit einer anderen Person gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.“ 116Ebd.
Außerdem beinhaltete der Entwurf eine Strafandrohung von bis zu fünf Jahren für gleichgeschlechtliche Handlungen von Erwachsenen mit Personen unter 21 Jahren und gewerbliche Ausübung. Darüber hinaus wurden neben einem Werbeverbot auch Bestimmungen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen in Gegenwart Dritter, an öffentlichen Orten oder als Soldat vorgeschlagen. 117Argumentativ wurde zu diesem Vorschlag die Tatsache ins Zentrum gestellt, dass die geringere Strafandrohung für einfache Homosexualität dazu führen würde, dass diese Handlungen nicht mehr als Verbrechen, sondern als Vergehen gewertet würden. Faktisch revidierte dieser Strafrechtsentwurf zentrale Ergebnisse der Strafrechtskommission und übernahm zahlreiche Argumente von Proponenten wie Roland Graßberger. Bemerkenswerterweise vermerkte das Justizministerium in einer Aktennotiz zu einem Zeitungsartikel zur Frage der Strafrechtsreform die folgende Anmerkung: „Die Erläuternden Bemerkungen zum § 228 des Strafgesetzentwurfes 1968 befassen sich sehr eingehend mit dem Für und Wider der Strafbarkeit der Homosexualität. [...] Die Regierungsvorlage für ein Bundesgesetz über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzentwurf 1968) hat zwar dem Gesetzgeber die Strafbarkeit der Homosexualität vorgeschlagen, doch hat sie in den Erläuternden Bemerkungen klar zum Ausdruck gebracht, daß bei der parlamentarischen Beschlußfassung über die Strafwürdigkeit einfacher gleichgeschlechtlicher Unzucht die Einstellung der Abgeordneten entscheidend sein wird.“ AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 18.214-9c/68. Es wurde jedoch rasch deutlich, dass dieser Entwurf der Alleinregierung nicht die notwendige Mehrheit finden würde. Die SPÖ unter Bruno Kreisky und Broda positionierten sich öffentlich gegen die „unwahrhaftige, moralisierende Tendenz“ des Gesetzesentwurfes:
„Es geht dabei darum, ob, wie es auch seit Generationen diskutiert wird, die Homosexualität als ein Irrtum der Natur unter Erwachsenen weiterhin strafbar sein soll oder ob sie, wie in nahezu allen Ländern Europas, endlich auch in Österreich aus dem Bereich des Strafgesetzes verschwinden soll.“ 118Sozialistische Partei Österreich, Protokoll 19. Parteitag, 2.-4.10.1968, Wien – Sofiensaal (Wien 1968), 150 f.
Entsprechend kam es zu diesem Gesetzesentwurf auch nur zu einer Debatte im Plenum des Nationalrats am 18. Oktober 1968. 119Ein letzter Vermittlungsversuch Klecatskys, der hinsichtlich einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen Entgegenkommen signalisierte, wurde von der SPÖ abgelehnt. Vgl. Wirth, Christian Broda, 362 f. Unter dem Eindruck Deutschlands, in dem die sozialliberale Regierung Brandt die einfache Homosexualität im Jahr 1969 straffrei machte, wurden keine weiteren Anläufe zum Beschluss dieses Strafrechtsentwurfes im Parlament mehr unternommen.
Wie Akten des Justizministeriums jedoch zeigen, gab es sehr wohl Überlegungen für einen solchen weiteren Versuch, konkret für eine Strafgesetznovelle im Jahr 1969. Die Überlegungen dazu basierten auf einem Treffen zwischen dem Justizminister und Vertretern der katholischen Juristenkreise am 17. Juli 1969, in dem Minister Klecatsky auf die Neuregelung der Sexualverbrechen in England im Jahr 1967 hingewiesen wurde und dabei festgestellt wurde, „daß man in diesen Kreisen [katholischer Juristen] die in dem genannten Gesetz gewählte Lösung der Frage der strafrechtlichen Behandlung der Homosexualität der in der Bundesrepublik Deutschland nunmehr beschlossenen Regelung (Straflosigkeit der einfachen gleichgeschlechtlichen Unzucht) vorziehe“. 120AdR, Bestand BMJ/Sektion II/Kanzleistelle L (Strafrecht), Karton 140, Geschäftszahl 18.484-9a/69 (5.1.1970). Unter dem Titel „Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz übersendet Material über das britische Gesetz über Sexualverbrechen vom 27. Juli 1967“ dokumentiert das Bundesministerium:
„Einige Zeit später hat der Herr Minister die Sekt. II ersucht, einen zur Einbringung einer Regierungsvorlage geeigneten Entwurf betreffend einer Strafgesetznovelle 1969 vorzubereiten. Nach dieser Novelle sollten
a) das Tatbild des § 129 lit. a StG. (Unzucht mit Tieren) gänzlich entfallen;
b) das Tatbild des § 129 I lit. b StG. (Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechtes) in Anlehnung an das inneliegende Gesetz über Sexualverbrechen vom 27.7.1967 neugestaltet und
c) aus dem § 525 StG. das Tatbild der sog. Ehestörung entfernt werden.“ 121Ebd.
Ein entsprechender Entwurf wurde erstellt, jedoch nicht eingebracht, weshalb die Akten vermerkten, dass der Entwurf unter Verschluss zu bleiben habe – „um zu verhindern, daß dieses noch im Stadium des Erwägens befindliche, der Materie nach vor allem politisch heikle legislative Vorhaben vorzeitig bekannt und diskutiert wird, sollte das Material zunächst zwar nicht gerade geheim, aber doch reservat behandelt werden“. 122Ebd. Nachdem der Minister aber in der Budgetdebatte des Nationalrats am 18. Dezember 1969 ansprach, einen solchen Entwurf vorliegen zu haben, wurde die Sperre des Aktes aufgehoben und festgestellt, dass „wohl auch keine Aussicht mehr besteht, in den beiden letzten Monaten der laufenden Legislaturperiode eine Regierungsvorlage einzubringen.“ 123Ebd.
Doch obwohl die Thematik von der parlamentarischen Bühne verschwunden war, hielten öffentliche Debatten zur Frage von Strafrechtsbestimmungen gegen Homosexualität auch am Ende der 1960er-Jahre an. Klare Anzeichen dafür zeigen intensive Briefwechsel zwischen der Liga für Menschenrechte und der katholischen Kirche. 124Angesichts des gestiegenen Einflusses der Kirche unter der ÖVP-Alleinregierung wandte sich die Liga bereits 1967 an alle Diözesan- und Weihbischöfe und übermittelte diesen unter anderem Argumentarien, drei internationale Standardwerke zum Thema Homosexualität und Benndorfs Buch Unvernunft und Unheil im Sexualstrafrecht. Dass diese Interventionen durchaus wahrgenommen wurden, zeigen beispielsweise Antwortschreiben des Bischofs von Graz-Seckau, der seine Besorgnis darüber ausdrückte, dass eine Entkriminalisierung von Homosexualität „die sittliche Wertung dieses Verhaltens in der Öffentlichkeit [...] verharmlosen [...], es als naturgemäß und einwandfrei“ bewerten würde. Einem Vorstandsprotokoll der Liga vom Dezember 1967 ist zu entnehmen, dass „neben einer im Grunde positiven Antwort des steirischen Oberhirten Dr. SCHOISWOHL nun auch positive öffentliche Stellungnahmen von Ligafreund Prälat Dr. Ungar“ und anderen vorliegen würden. Brief Bischöfliches Ordinariat Graz-Seckau an die Österreichische Liga für Menschenrechte (17.7.1967); Protokoll der Vorstandssitzung der Liga für Menschenrechte (1.12.1967), beide QWIEN Archiv, Archiv der ÖLfM. Gleichzeitig intensivierten sich die Aktivitäten von Vereinigungen im kirchlichen Umfeld. Die Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft schloss sich im November 1968 den „Empfehlungen und Wünschen der österreichischen Bischofskonferenz an den Gesetzgeber“ an und begründete dies mit der Bedeutung des Strafrechts als „Bollwerk gegen das Heranwachsen sexuell Pervertierter und damit in gewissem Sinn gemeinschaftsunfähige[r] Personen“. 125Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft (Hrsg.), Gesellschaft und Strafrecht (Wien 1968), 66 ff.
Als weiteres Beispiel für den Einfluss öffentlicher Diskurse am Ende der 1960er-Jahre kann das universitäre Umfeld genannt werden, das sich in intensiver Wechselwirkung mit politischen Entscheidungsträger*innen befand. Wie intensiv sich dieser Austausch gestaltete, zeigt sich am Beispiel der Tagung Sexualität ist nicht pervers der Wiener Sektion des Verbandes Sozialistischer Studenten Österreichs (VSStÖ) von 16. bis 20. Oktober 1967. 126Vgl. Herbert Leirer/Silvio Lehmann/Verband Sozialistischer Studenten Österreichs, u.a. (Hrsg.), Sexualität ist nicht pervers: Vorträge und Diskussion im Rahmen einer Informationsreihe, veranstaltet vom Verband Sozialistischer Studenten Österreichs in der Zeit vom 16. bis 20. Oktober 1967 an der Universität Wien (Wien 1969). Angesichts der erwarteten ÖVP-Regierungsvorlage diskutierten dabei nicht nur Persönlichkeiten wie Broda oder der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno, sowie der deutsche Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und Prälat Leopold Ungar als Vertreter der katholischen Kirche über Fragen des Sexualstrafrechts. Unter den Diskutanten befand sich auch Franz Pallin, der Generalprokurator der Republik zwischen 1966 und 1971, der sich wie folgt äußerte:
„Das neue Strafrecht kann kein Gesetz der 51 Prozent gegen 49 Prozent sein. Es bringt einen 120jährigen Nachholbedarf zum Ausdruck. Der Entwurf 1966 ist ein fortschrittlicher; er trägt den wesentlichen Erkenntnissen der modernen Wissenschaft Rechnung. Was in der Wissenschaft unbestritten gilt, wird zum Ausdruck gebracht. Die strittig gebliebenen Fragen sollen im Parlament in freier Abstimmung und ohne Klubzwang entschieden werden. Es kann zum Beispiel keinen Klubzwang geben bei der Frage der einfachen Homosexualität.“ 127Ebd., 147 ff.
Die Wirkung dieser Aktivitäten auf den öffentlich-politischen Diskurs wurden in diesen letzten Jahren des Totalverbots gleichgeschlechtlicher Handlungen insbesondere durch den so genannten „Fall Ernst Karl“ deutlich. Dabei handelte es sich um den breit diskutierten Kriminalfall eines Wiener Polizisten, der angab, zwei Einbrecher erschossen zu haben, tatsächlich aber, wie sich im Zuge der Ermittlungen herausstellte, als Opfer einer Erpressung wegen Homosexualität seine Erpresser erschossen hatte:
„Dieser Fall führte zu einer breitangelegten Diskussion über den § 129 Ib. Die Medien und auch die breitere Öffentlichkeit nützten die Gelegenheit um für die Abschaffung des § 129 Ib. zu plädieren.“ 128Andreas Brunner/Ines Rieder u.a. (Hrsg.), Geheimsache:Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts [anlässlich der Ausstellung Geheimsache: Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts, 26.10.2005 bis 8.1.2006, Neustifthalle, Wien] (Wien 2005), 55.
Dieser Fall wurde nicht nur ausführlich in der medialen Arena diskutiert, sondern auch von politischen Proponent*innen aufgegriffen. So fragte beispielsweise Christian Broda in seiner Rede an den SPÖ-Parteitag 1968 hinsichtlich des „Mordfall[s] Karl vor wenigen Monaten“, ob weiter zugesehen werden solle, wenn „sinnlose Verbrechen begangen werden, weil es diese sinnlose Strafbestimmung gibt“. 129Sozialistische Partei Österreich, Protokoll 19. Parteitag, 151. Das Narrativ der Ermöglichung von Erpressungen fand am Höhepunkt der Debatten um die politisierte Strafrechtsreform damit einmal mehr Eingang in den öffentlichen und politischen Diskurs und zeigte, dass auch die „öffentliche Meinung […] keineswegs gegen die Modernisierung des Strafrechts“ war. 130Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 27.
Kapitel 2.3: Die Kleine Strafrechtsreform (1970-1971)
Unter diesen Vorzeichen führte der Wahlsieg der SPÖ und die Angelobung der SPÖ- Minderheitsregierung am 21. April 1970 zur Rückkehr von Christian Broda ins Bundesministerium für Justiz. Dass die Frage der Strafrechtsreform und insbesondere der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen für die neue Regierung große Priorität hatte, zeigte sich schon bei der Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Bruno Kreisky:
„Die Bundesregierung hält gerade im Hinblick auf die Notwendigkeit einer sorgfältigen parlamentarischen Beratung der großen Strafrechtsreform legislative Sofortmaßnahmen für erforderlich, die nach allgemeiner Auffassung nicht mehr länger aufgeschoben werden dürfen, will man tausendfaches Leid auf Grund unhaltbar gewordener Vorschriftlichen (sic!) nicht täglich wiederkehren lassen.“ 131Klub der sozialistischen Abgeordneten und Bundesräte (Hg.), Für ein modernes Österreich. Regierungserklärung, abgegeben von Bundeskanzler Bruno Kreisky am 27. April 1970 vor dem Nationalrat (Wien 1970), 12.
Angesichts der zu erwartenden raschen Neuwahlen machte die SPÖ-Regierung damit klar, dass es statt einer Reform des gesamten Strafrechts zu einer kleineren Teilreform kommen würde, bei der die Frage der Homosexualität einen zentralen Stellenwert einnehmen würde. 132Bereits nach der Nationalratswahl vom 1.3.1970 und vor der Angelobung der Regierung konkretisierte Broda diese Zielsetzung in einem Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft, in dem er klarstellte, dass eine rasche Teilreform „weitere Verurteilungen aufgrund von strafgesetzlichen Bestimmungen [...], über deren Aufhebung man sich praktisch schon einig geworden ist“, verhindern würde. Vortrag in der „Wiener Juristischen Gesellschaft“ am 11.3.1970, zitiert nach: Österreichische Richterzeitung, 48. Jg., Nr 4., (Wien 1970), 71.
Die Arbeiten an der so genannten Kleinen Strafrechtsreform wurden folglich zwischen 1970 und dem Sommer 1971 zwischen dem Bundesministerium für Justiz und dem Parlament ausgehandelt. Bereits am 2. Juni 1970 wurde seitens des Justizministeriums ein erster Gesetzesentwurf für eine Teilreform des Strafrechts in den Ministerrat eingebracht. Hinsichtlich der Regelungen zu gleichgeschlechtlichen Handlungen sah dieser Entwurf einen Entfall von § 129 und die Einführung eines Mindestschutzalters für männliche Jugendliche von 21 Jahren, ein Verbot gleichgeschlechtlicher Prostitution durch Männer, ein Werbeverbot mit Verweis auf die „heterosexuelle Orientierung der rechtlich geordneten Gesellschaft“ und Regelungen „für eine Zeit des Übergangs nach der Einschränkung der Strafandrohung“ vor. 133Archiv Broda, V.831.1, Hektographischer Vortrag an den Ministerrat (22.5.1970), und: 39BlgNR, XII. GP (2.6.1970), beides zitiert nach: Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 30. Der Strafrechtsreformentwurf des Justizministeriums orientierte sich in den relevanten Punkten weitgehend an den Entwürfen von 1964 und 1966. Bereits am 6.5.1970 fand dazu auch eine erste Diskussion unter den SPÖ-Mitgliedern des Justizausschusses im Nationalrat statt. Aus den Notizen Brodas geht hervor, dass es dabei „divergierende Stellungnahmen [zu] Schutzbestimmungen für Jugendliche gegeben haben dürfte. Archiv Christian Broda, V.831.1, Notiz vm 6.5.1970, zitiert nach: Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 30. Von der Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Frauen wurde in diesem Entwurf und den folgenden Verhandlungen genauso abgesehen, wie in den schlussendlich beschlossenen Regelungen der Kleinen Strafrechtsreform. 134Konkret sah die Regierungsvorlage 1970 folgende Strafbestimmungen vor: Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Minderjährigen: § 129. Als Verbrechen werden auch nachstehende Arten der Unzucht bestraft: I. Gleichgeschlechtliche Unzucht einer Person männlichen Geschlechtes, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, mit einer Person, die das einundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Gewerbsmässige gleichgeschlechtliche Unzucht: § 500a Wer gewerbsmäßig gleichgeschlechtliche Unzucht mit einer Person männlichen Geschlechtes treibt oder sich zu solcher Unzucht anbietet, wird, sofern sich darin nicht das im § 129 bezeichnete Verbrechen darstellt, wegen Vergehens mit strengem Arrest von sechs Monaten bis zu zwei Jahren bestraft. Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht: § 517. Wer vorsätzlich öffentlich zur gleichgeschlechtlichen Unzucht auffordert oder sie in einer Art gutheißt, die geeignet ist, solche Unzuchtshandlungen nahezulegen, macht sich eines Vergehens schuldig und wird, wenn er nicht als Mitschuldiger oder Teilnehmer an der Unzuchtshandlung (§§ 5 und 9) mit strengerer Strafe bedroht ist, mit strengem Arrest von einem bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 50.000 S bestraft.
Bemerkenswert scheint in diesem Entwurf vor allem die Begründung des Entfalls der Strafbarkeit von gleichgeschlechtlichen Beziehungen zwischen Frauen, die auch in den späteren Verhandlungen zur Kleinen Strafrechtsreform inhaltlich unverändert blieb und auf die unter anderem auch der Verfassungsgerichtshof in späteren Entscheidungen Bezug nahm:
„In der Tat wirkt sich eine gleichgeschlechtliche Triebrichtung bei Frauen nicht in gleicher Weise aus wie bei Männern, erschwert die Einpassung in die gegebenen gesellschaftlichen Strukturen nicht in gleichem Maße und tritt nach außen hin nur wenig in Erscheinung. […) Schließlich wären die Tathandlungen in der Regel nur schwer faßbar. Die Grenzen zwischen freundschaftlichen Zärtlichkeitsbezeugungen, Berührungen im Zuge von Hilfeleistungen bei der Körperpflege und dergleichen einerseits und echten gleichgeschlechtlichen Akten andererseits entzögen sich weitgehend der Feststellung im Strafprozeß. […] Nach alledem ist es berechtigt, die Strafdrohung auch unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes auf Akte zwischen Personen männlichen Geschlechts zu beschränken.“ 135Regierungsvorlage für das Strafrechtsänderungsgesetz 1970 (39 der Beilagen, XII. GP NR) vom 2.6.1970, 15.
Im Nationalrat nahm der Justizausschuss am 18. Juni 1970 die Verhandlungen zur Regierungsvorlage auf und setzte einen eigenen Unterausschuss ein, der am 2. Juli 1970 zur ersten Tagung zusammen trat. 136Dieses Vorgehen spiegelte den, auch öffentlich artikulierten Wunsch, nach einer breiten politischen Unterstützung für die Kleine Strafrechtsreform wider. Der Unterausschuss des Justizausschusses setzte sich entsprechend aus je sechs Mitgliedern von SPÖ und ÖVP, sowie einem Mitglied der FPÖ – dem Unterausschussvorsitzenden Gustav Zeilinger – zusammen. Bereits nach der Verabschiedung der Regierungsvorlage kam es zu heftigen öffentlichen Reaktionen: Die Liga für Menschenrechte warnte davor, dass die harte Folgegesetzgebung nach Ende des Totalverbots Österreich zu einem „europäischen Rechtsmuseum“ zu verwandeln drohe. 137Das Menschenrecht, 25. Jg., Nr. 2 (Juni 1970), 1. Von katholischer Seite beschloss der Katholische Familienverband eine klare Ablehnung des Gesetzesentwurfes und die Katholische Juristenkommission sprach sich am 1. Juli 1970 gegen die Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen aus. 138Vgl. Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 31. Generell ließ sich trotz der Kritik an den Gesetzesplänen aber bereits 1970 eine Diskursverschiebung feststellen, die sich darin ausdrückte, dass „das sozialdemokratische Lager […] breiter geworden“ war und „nicht nur eine gewachsene Zahl von Experten, sondern auch die sich formierende Frauenbewegung“ umschloss, während „die konservative Seite […] ihre seinerzeitige Geschlossenheit nicht mehr erreichen“ konnte. 139Wolfgang Stangl, Die neue Gerechtigkeit. Strafrechtsreform in Österreich 1954-1975 (Wien 1985), 93. Generell kann festgestellt werden, dass gerade Gegner*innen eines Endes des Totalverbots gleichgeschlechtlicher Handlungen 1970/1971 einen verstärkten Fokus auf die Frage des Jugendschutzes legten. Das wurde auch bei entsprechenden Veranstaltungen des Katholischen Akademikerverbandes Wien und des Katholischen Familienverbandes im Herbst 1970 deutlich, bei denen unter anderem Roland Graßberger dieses Thema in den Fokus rückte. Diese Frage beschäftigte auch die Unterstützer*innen einer weitergehenden Liberalisierung des Sexualstrafrechts. So warnte die Liga für Menschenrechte in diesem Zeitraum mit offenen Briefen und Appellen vor zu restriktiven Regelungen und forderte eine Strafe für Über-18-Jährige nur in Fällen, in denen der Altersunterschied drei Jahre überstieg. Vgl. Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 32 f. Eine Reform der strafrechtlichen Bestimmungen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen, auch auf konsensualem Weg, rückte damit in greifbare Nähe.
Neben der Frage des Ehebruchs stellte das Thema Homosexualität wohl die umstrittenste Reform des Gesetzesentwurfes dar. Der Unterausschuss widmete sich dieser Thematik erstmals am 18. und 20. Jänner 1971 und beschloss die Ladung von Juristen und Medizinern zur Beantwortung eines umfassenden Fragenkatalogs. 140Einen zentralen Teil dieses Fragebogens nahm die Frage von Natürlichkeit versus Prägung on gleichgeschlechtlichem Verlangen dar. Weiters wurden Fragen nach gleichgeschlechtlichen Handlungen unter Jugendlichen, hinsichtlich der Strafmündigkeit mit 18 Jahren, dem geplanten Schutzalter von 21 Jahren, sowie möglicher Auswirkungen von Werbung für die Anliegen von Homosexuellen gestellt. Aus den Ausschussprotokollen geht hervor, dass es anfangs insbesondere hinsichtlich der engen Fassungen zum Prostitutions- und Vereinsverbot im Regierungsentwurf Bedenken durch die ÖVP gab. Die SPÖ argumentierte dagegen, dass gerade die Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichen Handlungen unter Erwachsenen einer möglichen „Cliquenbildung“ entgegenwirken würde. Die FPÖ sprach sich generell für die Entkriminalisierung unter Gewährleistung des Jugendschutzes aus. Bemerkenswert ist, dass neben den angesprochenen Experten zwar die Katholische Aktion, nicht aber Vereinigungen wie die Liga für Menschenrechte geladen wurde. Nichtsdestotrotz waren Mitglieder des Unterausschusses, sowie der Justizminister als Liga-Mitglieder am Verhandlungsprozess beteiligt. Angesichts der zentralen Stellung der Jugendschutzfrage betonte die Katholische Aktion in der Unterausschusssitzung vom 12.2.1971 die Wichtigkeit eines Verbots von Zeitschriften und Vereinen, sowie der Ahndung gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Jugendlichen im Fall einer Entkriminalisierung. Letzterer Forderung wurde seitens des Justizministers eine sofortige Absage erteilt. Vgl. ebd., 33 ff. In der Sitzung des Unterausschusses vom 8. März 1971 nahmen dazu sechs Experten Stellung, wobei „insbesondere die Schutzaltersgrenze behandelt wurde und die Frage, ob zwischen männlicher und weiblicher Homosexualität unterschieden werden soll“. 141Parlamentskorrespondenz (8.3.1971), 1. Bogen. Roland Graßberger forderte im Zuge dieser Sitzung die Beibehaltung der Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen, von der „in Fällen von besonderem Interesse“ abgesehen werden könne. Unter Verweis auf empirisches Datenmaterial führte er aus, dass Homosexuelle „in mehrfacher Hinsicht eine negative Auslese“ der Gesellschaft darstellen würden und lieferte ausführliche Darstellungen verschiedener Typen homosexueller Straftäter, die er teilweise mit bildhaften Begriffen wie „Nudelgreifer“ titulierte. 142Protokoll des Unterausschusses des Justizministeriums (8.3.1971), Beilage: Roland Graßberger, Die kriminologischen Aspekte der gleichgeschlechtlichen Unzucht, 5. Mit diesen Darstellungen versuchte er die viel diskutierte Prägungstheorie von Jugendlichen zu verteidigen und forderte als einziger der Experten eine Ahndung gleichgeschlechtlicher Jugendlicher. Fünf der sechs Experten sprachen sich für eine Senkung des Schutzalters auf 18 Jahre aus, alle sechs für eine Straffreiheit solcher Handlungen zwischen Frauen, „da Lesben sich nicht an Jugendliche heranmachen würden“. 143Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 37.
In dieser zentralen parlamentarischen Aushandlung hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen kann neben einem generellen Konsens über das Ende des Totalverbots im Sinne des § 129 auch die Bedeutung weiterer Folgegesetzgebungen zum Jugendschutz und Prostitutionsverbot, sowie – auf Druck der ÖVP – die Etablierung eines Vereinsgründungsverbots, des s.g. Verbindungsverbots, neben dem vorgeschlagenen Werbeverbot als zentrales Ergebnis angesehen werden. 144In den persönlichen Notizen von Justizminister Broda vom 25.3.1971 findet sich hinsichtlich des Verbindungsverbots folgender Änderungsvorschlag: „Zu § 517 Formulierung wie ‚als Mitglied‘ streichen. Es kommt auf Betätigung an, nicht auf vereinsmäßige Mitgliedschaft. Öffentliches Ärgernis!“ Archiv Christian Broda, V.836.2. Hinsichtlich ergänzender Vorschläge scheint dies das Ziel der SPÖ auszudrücken, das Werbe- und Verbindungsverbot durch die Bedingung des ‚öffentlichen Ärgernisses‘ zu beschränken. Von einem menschenrechtlichen Diskurs oder Gleichheitsgedanken von Homosexuellen kann entsprechend keine Rede sein, so argumentierten „sogar die BefürworterInnen der Entkriminalisierung für flankierende gesetzliche Maßnahmen […], um eine Ausbreitung von Homosexualität hintanzuhalten“. 145Roman Birke/Barbara Kraml, Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion: Homosexualitäten zwischen Verfolgung und Normalisierung in Österreich 1971, in: Zeitgeschichte 43/2, März/April 2016 (2016), 85. Diese politische Bewertung von gleichgeschlechtlichen Handlungen als nicht im Bereich des Strafrechts anzusiedeln, aber nichtsdestotrotz moralisch abzulehnen, drückte sich auch darin aus, dass „sowohl von sozialdemokratischen als auch konservativen Abgeordneten immer wieder darauf verwiesen wurde, dass gleichgeschlechtliche Sexualität dadurch [die Strafrechtsreform] nicht als erwünscht zu betrachten sei“. Ebd., 87. Erst Jahrzehnte später, in einem Essay aus dem Jahr 2011, bezog einer der beteiligten Abgeordneten, Peter Schieder (SPÖ), dazu ausführlicher Stellung. Er gehörte dem Unterausschuss ab Dezember 1970 an und kritisiert in seinen Erinnerungen zur Strafrechtsreform das Fehlen einer „Begutachtung, in der die diesbezüglichen Interessensvertretungen und Betroffenen ihre Stellungnahmen abgeben“. In diesem Sinne berichtet er von einem inoffiziellen Austausch mit Betroffenen, „ein – natürlich geheimes – Treffen einiger Abgeordneter mit Homosexuellen, um alle offenen Punkte und deren zusätzliche Wünsche an das Gesetz zu besprechen. Das Treffen fand im Arbeiterheim Ottakring statt und dauerte mehrere Stunden. Es waren 15 oder 20 Betroffene dort, darunter bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Universitätsprofessoren, Juristen, Künstler. [...] Vonseiten der Abgeordneten waren Karl Blecha, Karl Reinhart und ich selbst die ganze Zeit dort. Mut, Offenheit und Eindringlichkeit der Diskussionsbeiträge waren für mich beeindruckend und bewegend. Und wahrscheinlich wurde mir erst dort die volle Grausamkeit und Dummheit einer Gesetzesbestimmung bewusst, die für viele Männer das persönliche Lebensglück verboten und strafbar gemacht hatte. Es wurden fast alle Punkte besprochen, der Hauptpunkt war jedoch die Frage der Prägung, des sogenannten ‚Hinführens‘ oder ‚Verführens‘ zur Homosexualität – und damit auch die Frage der Altersgrenze für Beziehungen mit jugendlichen Homosexuellen. Die Argumente führten auch dazu, dass Blecha, Reinhart und ich dann die Abänderung der Regierungsvorlage (die vorgesehen hatte, dass Beziehungen von über 21-Jährigen mit unter 21- Jährigen strafbar bleiben sollten) wenigstens um einige Jahre erreichten.“ Peter Schieder, Der Kampf um LGBT-Rechte in Österreich und Europa. Persönliche Erinnerungen aus 40 Jahren, in: Martin J. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht. Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002 (Graz 2011), 9 ff.
Diese Tendenzen spiegelten sich auch in der revidierten Regierungsvorlage des Jahres 1971 wider. Darin legte der geänderte § 129 als „Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Jugendlichen“ ein Mindestalter von 18 Jahren fest. Keine Änderungen wurden bezüglich des Prostitutionsverbots vorgenommen, das Werbeverbot um „Unzucht mit Tieren“ und die Erzeugung von Druckwerken erweitert. 146Strafrechtsänderungsgesetz mit Stand vom 14.2., 25.3. und 28.5.1971. Ein erweiterter Vorschlag der ÖVP, der eine strafrechtliche Ahndung wegen Gründung von, Werbung für oder Mitgliedschaft in Verbindungen zur Förderung homosexueller Anliegen vorsah, wurde von Broda abgelehnt. Vgl. Weingand „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 38. Hinsichtlich des Verbots von Verbindungen von Homosexuellen gab es in der abschließenden Debatte des Unterausschusses am 1. Juni 1971 auf Vermittlung des Justizministeriums einen Kompromiss, durch den § 518 ein Verbindungsverbot auf Fälle der Erregung öffentlichen Ärgernisses beschränkte.
Auch die letzten Wochen der parlamentarischen Aushandlung der Kleinen Strafrechtsreform waren von zahlreichen öffentlichen Interventionen geprägt. Besondere Bedeutung kann dahingehend dem Aufsatz „Homos sind normal“ beigemessen werden, der in der März/April Ausgabe der Zeitschrift NEUES FORVM veröffentlicht wurde. Politische Relevanz hatte dieses Essay vor allem durch seinen Autor, den Ministerialrat im Justizministerium Karl Gassl, der Homosexualität als Persönlichkeitsform und nicht als Krankheit oder „Entartung“ beschrieb:
„Wer an Verführung zur Homosexualität glaubt, müßte folgerichtig auch eine Verführung Homosexueller zur Heterosexualität annehmen. Dann dürfte es eigentlich keine Homosexuellen geben, denn von Jugend auf werden wir durch Lektüre, Theater, Kino, bildende Kunst, Erlebnisse im Elternhaus, in Gesellschaft, auf der Straße ständig heterosexuell beeinflusst.“ 147Karl Gassl, Homos sind normal, in: NEUES FORVM, März/April 1971 (Wien 1971), 39-42. Nach massiver Kritik der ÖVP verteidigte Broda seinen Mitarbeiter im Plenum des Nationalrats.
Nach zweitägiger Plenardebatte wurde das finale Gesetzespaket im Nationalrat am 8. Juli 1971 offen abgestimmt und mit den Stimmen aller SPÖ- und FPÖ-Abgeordneten beschlossen. Seitens der ÖVP gab es neun Gegenstimmen, drei Abgeordnete verließen den Saal. 148Der ÖVP-Wunsch nach einer geheimen Abstimmung wurde von SPÖ und FPÖ abgelehnt. Die Debatte vom 7. und 8.7.1971 stellte gleichzeitig die erste ausführliche Debatte zum Thema Homosexualität im Plenum des Nationalrats dar. Die SPÖ stellte dabei vor allem die internationale Nachzüglerrolle Österreichs in den Fokus: Justizsprecher Otto Skritek verteidigte die Folgegesetzgebung zum Totalverbot dadurch, dass „Homosexualität jetzt nicht, weil sie straffrei ist, eine erwünschte, sagen wir, Betätigung werden“ solle. SPÖ-Abgeordnete Lona Murowatz betonte dagegen, dass „der Strafrichter [...] kein Sittenrichter“ sein solle und ihr Kollege Karl Blecha beschrieb die Strafrechtsreform als „Prozeß des gesellschaftlichen Umdenkens“, bei dem es um die „Respektierung von Minderheiten, [...] Sicherung des Freiheitsraumes des einzelnen und [...] Respektierung seiner Privat- und Intimsphäre“ gehe. Seitens der ÖVP begründete die Zustimmung der ÖVP zur Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen bei gleichzeitiger „Strafbarkeit zum Schutze der Jugend“ mit Verweis darauf, dass „Aussicht auf Heilung eines echten Homosexuellen durch die psychiatrische Medizin [...] nach Aussagen der Wissenschaft kaum“ bestehe und der Unterausschuss gezeigt habe, dass die Homosexualität eine „erworbene Eigenschaft“ sei. Die Weiterverwendung des Begriffs der ‚Unzucht‘ in der Folgegesetzgebung zeige, „daß der Gesetzgeber dem Phänomen der Homosexualität nicht etwa wohlwollend neutral oder gar indifferent gegenübersteht“, sondern solche Handlungen weiterhin als „sozial nicht erwünscht und [...] widernatürlich“ angesehen würden. ÖVP- Abgeordneter Otto Kranzlmayer führte aus, dass die Recherchen der parlamentarischen Beratungen gezeigt hätten, dass „die Sozialschädlichkeit der Homosexualität unter Erwachsenen im großen und ganzen zu verneinen ist“. FPÖ-Unterausschuss-Vorsitzender Gustav Zeilinger begründete die Zustimmung seiner Fraktion mit Verweis auf die „300.000 bis 500.000 Homosexuelle[n] [...] die immer wieder unzählige Tragödien“ erleben würden. Stenographisches Protokoll des Nationalrats (7., 8.7.1971). Nach der, am Tag zuvor erfolgten, Auflösung des Nationalrats zum Ziel einer Neuwahl, erlangte die Kleine Strafrechtsreform „unverdient wenig Aufmerksamkeit“, passierte schließlich kurz darauf, mit einigen Gegenstimmen der ÖVP, den Bundesrat und trat am 17. August 1971 in Kraft. 149Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“, 40 ff.
Das neue Strafgesetzbuch hob damit das Totalverbot gleichgeschlechtlicher Handlungen auf und führte stattdessen vier strafrechtliche Folgeregelungen ein. Diese regelten (nachfolgend unter Angabe der Paragrafen des Beschlusses 1971, sowie des neuen Strafgesetzbuches nach der Großen Strafrechtsreform 1974):
Verbrechen der Unzucht (§ 129; ab 1975 § 209 StGB):
„Als Verbrechen werden auch nachstehende Arten der Unzucht bestraft: I. Gleichgeschlechtliche Unzucht einer Person männlichen Geschlechtes, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, mit einer Person, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat.“
Gewerbsmäßige gleichgeschlechtliche Unzucht (§ 500 a.; ab 1975 § 210 StGB):
„Wer gewerbsmäßig Unzucht mit einer Person männlichen Geschlechtes treibt oder sich zu solcher Unzucht anbietet, wird, sofern die Tat nicht das im § 129 bezeichnete Verbrechen begründet, wegen Vergehens mit strengem Arrest bis zu zwei Jahren bestraft.“
Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechtes oder mit Tieren (§ 517; ab 1975 § 220 StGB):
„Wer vorsätzlich in einem Druckwerk, einem Laufbild oder sonst öffentlich zur gleichgeschlechtlichen Unzucht oder zur Unzucht mit Tieren auffordert oder sie in einer Art gutheißt, die geeignet ist, solche Unzuchtshandlungen nahezulegen, macht sich eines Vergehens schuldig und wird, wenn er nicht als Mitschuldiger oder Teilnehmer an der Unzuchtshandlung (§§ 5 und 9) mit strengerer Strafe bedroht ist, mit strengem Arrest bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 50.000 S bestraft.“
Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht (§ 518; ab 1975 § 221 StGB):
„Wer eine Verbindung einer größeren Zahl von Personen gründet, deren, wenn auch nicht ausschließlicher Zweck es ist, gleichgeschlechtliche Unzucht zu begünstigen, und die geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen, ferner, wer einer solchen Verbindung als Mitglied angehört oder für sie Mitglieder wirbt, macht sich eines Vergehens schuldig und wird mit strengem Arrest bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 50.000 S bestraft.“ 150BGBl, Jahrgang 1971, 80. Stück (2.8.1971), sowie: BGBl, Jahrgang 1974. Mit der Strafrechtsänderung entfiel in § 128 weiters die Wortfolge „, wenn diese Handlung nicht das im § 129, lit. b bezeichnete Verbrechen bildet,“. Der Strafrahmen für § 129 (ab 1975: § 209 StGB) wurde unter Angabe von Erschwernisgründen wie folgt geregelt: „§ 130. Die Strafe ist Kerker von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.“
Hinsichtlich der 1971 eingeführten Folgeparagrafen zum Totalverbot gleichgeschlechtlicher Handlungen kann abschließend festgestellt werden, dass diese nicht nur durch politische Aushandlungsprozesse begründet wurden, sondern in vielerlei Hinsicht auch offene wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten widerspiegelten. Insbesondere hinsichtlich der Einführung eines eigenen, auf männliche Homosexualität abzielenden Schutzalters fasst der später verfasste Bericht des SPÖ-Abgeordneten Peter Schieder den Konsens der Verhandlungen 1970/1971 und dessen Auswirkungen wie folgt zusammen:
„Selbst die damals moderneren, die die Homosexualität nicht als quasi anerzogen sondern als ‚Irrtum der Natur‘ bezeichneten, schlossen eine Prägung/Verführung nicht aus, auch wenn manche die mögliche Prägungsphase eher in der Kindheit vermuteten. Zumindest erhielten wir dann auch von einigen wenigen Wissenschaftlern dahingehend Unterstützung, dass diese Prägung früher als mit 19 oder 20 stattfindet. Auch die Fragen des Verbotes homosexueller Vereinigungen und der ‚Werbung‘ für Homosexualität waren teilweise von der Prägungstheorie mitbestimmt, gleichzeitig aber auch vonseiten der ÖVP, die vermeinte, den konservativen kirchlichen Kreisen ‚nicht auch noch dieses‘ zumuten zu können.
Als wenige Jahre später zuerst einige und dann fast alle Wissenschafter sich von der Prägungstheorie entfernten, dauerte es leider noch lange, bis auch die durch diesen wissenschaftlichen Irrweg stark beeinflussten Gesetzesnormen geändert oder faktisch außer Kraft gesetzt wurden.“ 151Peter Schieder, Der Kampf um LGBT-Rechte in Österreich und Europa, 9 ff.
Kapitel 3: Die Folgeparagrafen gegen Homosexuelle und Debatten zu weiteren Reformen (1972-1989)
„Ein anderes Schlägewort, das die Politiker und Juristen gerne gegen uns anwenden, ist der monströse Begriff „Unzucht“. […] Dieses sprachliche Überbleibsel aus der Steinzeit-Justiz bedeutet eher ein schändliches Verhalten, beurteilt nach gesundem ‚Juristen-Empfinden‘. Das wird gleich klar, wenn man sich den gegen uns gerichteten Strafparagraphen § 220 ansieht, wo man sich nicht scheut, gleichgeschlechtliche ‚Unzucht‘ und ‚Unzucht mit Tieren‘ zusammenzuwerfen. Ärger kann die Menschenverachtung – Subspezies: Homosexuelle – juridisch nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden!“ 1521 Rosa Manifest gegen die Ignoranz der Politiker, in: Lambda Nachrichten 1/1980 (1980).
Dieser Aufruf entstammt dem 1. Rosa Manifest gegen die Ignoranz der Politiker, der „erste[n] politische[n] Grundsatzerklärung“ der Homosexuelle Initiative Wien aus der Vereinszeitschrift Lambda-Nachrichten 1/1980. 153Gudrun Hauer/Dieter Schmutzer (Hrsg.), Lambda Lesebuch. Journalismus andersrum (1996), 19. Als erster Verein für Homosexuelle in der sich ab den 1970er-Jahren entwickelnden Zivilgesellschaft, fasst er die gesellschaftliche Debatte und die politischen Konfliktlinien rund um die strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen treffend zusammen.
Die anhaltende strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen ging trotz des Endes des Totalverbots Hand in Hand mit einer Kontinuität polizeilicher Verfolgung. Wie Weingand ausführt, betrieb die Wiener Polizei auch in dieser Zeit noch Karteilisten möglicher Homosexueller: 154Vgl. Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik, 77 f.
„‘Bis in die Achtziger Jahre war die Fluktuation im Milieu nicht so groß. Es war möglich eine ‚Homo-Kartei aufzubauen‘ und auf dem Laufenden zu halten‘. Erst mit der gestiegenen Mobilität durch die Öffnung der Ostgrenzen (ab 1989) bzw. mit der Entkriminalisierung wurde diese ‚unbedeutender‘; 2005 sollen jedenfalls derartige Listen nicht mehr geführt worden sein.“ 155Maximilian Edelbacher, Schwule und Lesben in Wien aus Sicht der Polizei, in: Brunner/Rieder, Geheimsache:Leben, 42 ff.
Nach Inkrafttreten der Kleinen Strafrechtsreform des Jahres 1971 brachte die darauf folgenden Nationalratswahl eine Zeit von SPÖ-Regierungen, die bis 1983 mit absoluten Mehrheiten ausgestattet waren. Zu Beginn der 1970er-Jahre fanden vor diesem Hintergrund kaum nennenswerte Debatten zu raschen weiteren Reformen der strafrechtlichen Bestimmungen bezüglich Homosexualität statt. Als Ausnahme kann einmal mehr der Ministerialrat des Justizministeriums, Karl Gassl, genannt werden, der 1972 in der Zeitschrift von Polizei und Gendarmerie Öffentliche Sicherheit zu den 1971 eingeführten Strafbestimmungen Stellung bezog und dabei in dieser offiziellen Veröffentlichung des Innenministeriums sehr deutlich artikulierte: „Es gibt […] keine Verführung zur Homosexualität.“ 156Karl Gassl, Die neuen Strafbestimmungen über Homosexualität, in: Öffentliche Sicherheit, 37. Jg., Nr. 3(1972), 4 f. Zitiert nach: Ebd., 48. In seinen Ausführungen zu den neuen Strafbestimmungen verwies der Ministeriumsbeamte auch darauf, dass analoge Regelungen zum Werbe- und Verbindungsverbot in vergleichbaren europäischen Strafrechtsbestimmungen einzigartig waren und in der Praxis wohl sehr strikt begrenzt waren: Die bildhafte Darstellung gleichgeschlechtlicher Handlungen sei demgemäß zwar durch das „Schmutz- und Schundgesetz“ des Jahres 1950 begrenzt, einen tatsächlichen Vorsatz zur Aufforderung zur Homosexualität sei laut Gassl jedoch wahrscheinlich sehr schwer nachzuweisen. Ähnliche Grenzen sah er durch die Einschränkung des Vereinswesens durch die Notwendigkeit eines öffentlichen Ärgernisses. Auch Justizminister Broda äußerte sich positiv über die durchgeführte Reform, so beispielsweise bei der Bundeskonferenz der Sozialdemokratischen Juristen in Frankfurt a.M. 1976:
„Welchen Weg haben wir zurückgelegt, seit diese barbarische Strafbestimmung gefallen ist? […] Seit der Abschaffung der Strafbestimmung gegen die homosexuelle Betätigung ist von einer Minderheit der Gesellschaft der Druck willkürlicher strafgerichtlicher Repression, die durch keinerlei rationalen Rechtsgüterschutz legitimiert war, genommen worden. Die Chancen für mehr Toleranz und Verständnis für Mitmenschen, die anders sind als die Mehrheit, sind größer geworden.“ 157Die Rechtsreform und das gesellschaftliche Bewusstsein, in: Christian Broda: Rechtspolitik, Rechtsreform. Ein Vierteljahrhundert Arbeit für Demokratie und Recht (Heidelberg 1986), 62.
Obwohl die 1970er-Jahre damit eine Veränderung des Diskurses brachten und, wie die genannten Beispiele zeigen, Begriffe wie „Toleranz“ oder die Ablehnung von biologistischen Argumentationen wie der Prägungstheorie sich durchzusetzen begannen, wurden weitere Reformen der Strafbestimmungen zur Homosexualität nicht in Angriff genommen. Die so genannte Große Strafrechtsreform übernahm dahingehend die 1971 eingerichteten Folgestrafbestimmungen fast wörtlich und auch in der parlamentarischen Debatte nahm das Thema keinen Raum ein. 158Das Thema Homosexualität kam in den Verhandlungen und Beratungen zur Großen Strafrechtsreform so gut wie gar nicht zur Diskussion. Einzig die SPÖ-Abgeordnete Lona Murowatz stellte 1973 fest, dass es auch zwei Jahre nach der Entkriminalisierung von Homosexualität „nicht zu einem sittlichen Verfall oder gar zu einem Dammbruch kam“. Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 84. Sitzung XIII. GP (27.11.1973). Der entsprechende Bericht des Justizausschusses des Nationalrats stellte dagegen den politischen Konsens dahingehend fest, dass „gleichgeschlechtliche Unzucht [...] in Zukunft im selben Bereich [...] wie nach dem geltenden Strafgesetz“ zu ahnden seien. Vgl. Bericht des Justizausschusses, 959 BlgNR XIII. GP.
Lediglich parlamentarische Anfragen, u.a. des FPÖ-Abgeordneten Tassilo Broesigke an Justizminister Broda vom Oktober 1979 159Anfragebeantwortung 4714/AB XVIII. GP., thematisierten eine mögliche Neuauslegung der Folgegesetzgebung. Unter Verweis auf eine ORF-Diskussion im Club 2 am 25. September 1979 wurde dabei die Frage nach der Möglichkeit von Vereinsgründungen zur Förderung der Rechte Homosexueller thematisiert:
„In der TV-Sendung Club 2 vom 25. 9. 1979 zum Thema Homosexualität wurden von einem Wiener Diskussionsteilnehmer, der die Absicht hat, einen Homosexuellenverein zu gründen, einige Behauptungen aufgestellt, die einer Klarstellung bedürfen. So stellte er fest, daß ihm vom Bundesminister für Justiz die Auskunft erteilt worden sei, daß einer solchen Vereinsgründung nichts im Wege stünde. Der § 221 StGB, der die Verbindung zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht mit Strafe bedroht, werde angeblich derzeit so interpretiert, daß die Möglichkeit der Vereinsgründung bestehe. Außerdem überlege das Bundesministerium für Justiz, die noch bestehenden strafrechtlichen Bestimmungen […] abzuschaffen.“ 160Anfrage 131/J-NR XV. GP.
Thematisiert wurde diese Fragestellung auch in einer Fragestunde an Broda im Plenum des Nationalrats am 24. Oktober 1979. 161Auf die Frage des ÖVP Abgeordneten Hauser „Ist die Behauptung eines Teilnehmers des ‚Homosexuellen‘-Clubs 2 (...) richtig, daß man nach einer Rücksprache im Justizministerium der Homosexuellen-Initiative Wiens versichert habe, daß einer Vereinsgründung nichts im Wege steht?“ antwortete Broda unter Verweis auf seine „Rechtspflicht“ zur Auskunft für „Vertreter eines Proponentenkomitees“ u.a.: „Nach § 221 Strafgesetzbuch ist strafbar, wer eine Verbindung einer größeren Zahl von Personen gründet, deren wenn auch nicht ausschließlicher Zweck es ist, gleichgeschlechtliche Unzucht zu begünstigen, und die geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen. Demnach fällt eine Vereinsgründung, die nicht geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen, nicht unter § 221 Strafgesetzbuch. Diese Rechtsauskunft wurde erteilt und im übrigen auf die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Inneres verwiesen.“ Zu den genauen Details des Gesprächs mit dem „zuständige(n) Abteilungsleiter, bei dem die Herren vorgesprochen haben“ sagte Broda auf Nachfrage: „Unser Abteilungsleiter hat darauf hingewiesen, was ich auch decke, daß keine Absicht des Bundesministeriums für Justiz besteht eine Änderung der in Rede stehenden §§ 220 und 221 des Strafgesetzbuches vorzuschlagen. (...) Wenn also Änderungen angestrebt werden, so wird dies nicht ohne eine Änderung der allgemeinen Einstellung in der Öffentlichkeit möglich sein.“ Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 10. Sitzung XV. GP (24.10.1979). Die konkreten Fragen der parlamentarischen Anfrage – insbesondere bezüglich der Auskünfte des Justizministeriums an den Betroffenen, möglicher Reformpläne, sowie einer staatsanwaltlichen Prüfung der Club 2 Sendung – beantwortete Justizminister Broda am 29. November 1979:
„Demnach fällt eine Vereinsgründung, die nicht geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen, nicht unter § 221 StGB. […] Über die erteilte Auskunft und den Inhalt des Gespräches wurde im diesbezüglichen Akt des Bundesministeriums für Justiz festgehalten:
‚§ 221 StGB untersagt die Gründung einer Vereinigung von Homosexuellen nicht schlechthin. Hier besteht durchaus Raum, sich zu einer Vereinigung zusammenzuschließen und die persönlichen Probleme von homosexuell Veranlagten der Allgemeinheit zu Bewußtsein zu bringen. In dieser Form könnte auch ein Einstellungswandel in der Gesellschaft angestrebt werden. Im Sinne des § 221 StGB komme es jedoch darauf an, daß die Verbindung nicht darauf abziele, mit der Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht in organisierter Form in der Öffentlichkeit Ärgerniß zu erregen.“ 162Anfragebeantwortung 146/AB-NR XV. GP. Aus der Anfragebeantwortung des Bundesministeriums für Justiz geht weiters hervor, dass aufgrund einer Strafanzeige die gegenständliche Sendung von der Staatsanwaltschaft Wien geprüft worden war und diese Prüfung ergeben habe, „daß keine der Äußerungen oder Handlungen der Diskussionsteilnehmer einem der Tatbestände der §§ 219 bis 221 StGB zu unterstellen ist“. Mit Zustimmung der Oberstaatsanwaltschaft Wien und Kenntnis des Justizministeriums sei die Strafanzeige daher abgelehnt worden.
Auf Basis dieser Debatten wurde 1979 schließlich die Homosexuelle Initiative Wien (HOSI) gegründet. Es kann zu Recht festgestellt werden, dass die Auslegung des § 221 StGB durch das Bundesministerium für Justiz als bewusste Entscheidung einen wesentlichen Beitrag für die Entstehung einer zivilgesellschaftlichen Bewegung von Vereinen für die Rechte von Homosexuellen in Österreich ab Anfang der 1980er-Jahre geleistet hat.
Auch der Beginn der 1980er-Jahre brachte wenige politische Debatten zum Thema Homosexualität mit sich. Einzig der Umgang mit Pornographie bzw. die Anwendung des § 219 StGB waren Inhalt einer Reihe parlamentarischer Anfragen an die Bundesministerien für Inneres und Justiz. 163Im Jahr 1981 befragte die ÖVP-Abgeordnete Helga Wieser in diesem Zusammenhang beispielsweise den Bundesminister für Justiz hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung von Kontaktanzeigen, die den Tatbestand des § 219 erfüllen könnten – konkret in Fällen, in denen „Kontaktanzeigen [...] der Strafdrohung des § 219 StGB unterfallen, wenn sie jedermann, der sozial integriert ist, als unerträglich empfindet, was insbesondere bei sadistischen, masochistischen oder kriminell homosexuellen Sexualbetätigungen der Fall ist, während heterosexuelle oder andere straflose sexuelle Betätigung nicht davon erfaßt werden“. Anfrage 1140/J-NR XV. GP. Justizminister Broda stellte in seiner Beantwortung schlicht fest, dass „Anbahnungsinserate von Prostituierten ohne Rücksicht auf den Inhalt bei gerichtlicher Strafe zu verbieten [...] die Schaffung einer bloßen Ordnungsvorschrift mit gerichtlicher Strafsanktion bedeuten [würde], die nicht in das Gefüge des gerichtliches Strafrechtes paßt“ und bereits aufgrund der schieren Menge derartiger Kontaktanzeigen nicht exekutierbar wäre. Anfragebeantwortung 1126/AB-NR XV. GP. Weiters beschäftigten sich parlamentarische Anfragen mit der Aufgreifung homosexueller Materialien im Kontext des ‚Schmutz- und Schundgesetzes‘. Vgl. u.a. Anfragen 584/J, 585/J, 586/J, 1353/J, 606/J, 607/J, 1171/J XV. GP. Mit dem Jahr 1983 endete die Zeit der SPÖ-Alleinregierungen. Die folgende Koalition zwischen SPÖ und FPÖ wurde Harald Ofner (FPÖ) mit den Agenden des Bundesministers für Justiz betraut. In dieser Zeit entflammten politische Debatten zum Thema Homosexualität anhand einer globalen Entwicklung: Unter dem Eindruck der weltweiten Ausbreitung des ‚Human Immunodeficiency Virus‘ (HIV) wurden sowohl die gesetzlichen Regelungen zu gleichgeschlechtlicher Prostitution nach § 210 im Speziellen als auch das Thema Homosexualität generell zum Zentrum ausführlicher politischer Debatten. Diese sollen nachfolgend insoweit wiedergegeben werden, als sie die Fragestellungen zur Entwicklung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen betreffen. Nach
entsprechenden Ankündigungen der Bundesregierung über die Schaffung eines eigenen „AIDS-Gesetzes“ erfolgte die erste parlamentarische Debatte zum Thema HIV/AIDS durch eine Anfrage des FPÖ-Abgeordneten Friedrich Probst an den Bundesminister für Gesundheit Kurt Steyrer. Dabei wurde seitens des Anfragenden bereits auf die „wachsende Zahl von positiv verlaufenden AIDS-Antikörpertests insbesondere bei Prostituierten“ verwiesen. 164Anfrage 1727/J XVI. GP.
Im Zuge der Diskussionen des Jahres 1986 zum AIDS-Gesetz wurde eine zunehmende Fokussierung auf das Thema Homosexualität deutlich. 165So stellte der ÖVP-Abgeordnete Günther Stummvoll in der Plenardebatte zu diesem Gesetz fest: „Der positive Aspekt ist der, daß man, soweit derzeit absehbar, sagen kann, daß diese Immunschwäche im wesentlichen doch, Gott sei Dank, beschränkt bleibt auf die wenigen Risikogruppen, das sind vor allem die Homosexuellen, die Bisexuellen und die spritzenabhängigen Drogensüchtigen“. Er begründete aber auch eine Zielsetzung, die in den Debatten zur strafrechtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen in den nächsten Jahren große Relevanz bekommen sollte: Das AIDS-Gesetz verzichte bewusst auf „strengere Maßstäbe“, weil es „die Zielsetzung [sei], die Risikogruppen herauszufinden [...] und wir ja vermeiden müssen, daß diese Risikogruppen gleichsam in den Untergrund gedrängt werden. Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 142. Sitzung XVI. GP (16.5.1986). Der FPÖ- Abgeordnete Probst verband seine Plenarrede in diesem Kontext mit einem generellen Appell:
„In diesem Zusammenhang ein Appell an die Gruppe der Homosexuellen, sich doch die Situation zu überlegen und abzulassen von ihrer aggressiven Werbung […], abzulassen von ihrem Kampf und ihrem Feldzug um die Aufhebung der Jugendschutzparagraphen in der Homosexualität.“ 166Ebd.
Die diskursive Verknüpfung gleichgeschlechtlicher Handlungen mit der Ausbreitung des HI-Virus prägte durch Aussagen mancher politischen Proponent*innen zwar die kommenden Jahre, nichtsdestotrotz setzte sich aber zunehmend eine Mehrheitsmeinung über die Notwendigkeit einer Aufhebung des Verbots des Prostitutionsverbotes nach § 210 StGB zur besseren Bekämpfung von HIV durch. Den Anfang vom Ende des ersten Folgeparagrafen der Entkriminalisierung machte ein Bericht des Justizausschusses „betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch und das AIDS-Gesetz geändert werden“ in der Nationalratssitzung vom 16. Mai 1986. 167Ebd. Der Ausschussbericht des ÖVP-Abgeordneten Hans Gasser, in dem die Frage des Prostitutionsverbots gemeinsam mit einer Novellierung der Strafbestimmungen gegen Vergewaltigung und sexuelle Nötigung besprochen wurden, wurden die politischen Überlegungen der Regierungsfraktionen wie folgt begründet: „Das Aufkommen und die Verbreitung des erworbenen Immundefektsyndroms (AIDS) in den letzten Jahren hat zu einer Diskussion über die Auswirkungen der Strafbarkeit der gewerbsmäßigen gleichgeschlechtlichen Unzucht nach § 210 StGB geführt.“ Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 102. Sitzung XVII. GP (27.4.1989) Angenommen wurde das Gesetz unter anderem unter Verweis auf die einhellige Empfehlung aller neun Landessanitätsdirektoren. Begründet wurden die Überlegungen zur Aufhebung des § 210 StGB dahingehend wie folgt:
„Vor allem die für Gesundheitsfragen zuständigen Stellen […] haben gegen die Strafbestimmungen gewichtige gesundheitspolitische Bedenken ins Treffen geführt und ihre Aufhebung gefordert. Insbesondere wurde hervorgehoben, daß die allgemeine Strafbarkeit männlicher homosexueller Prostitution der Wirksamkeit der gegen die Verbreitung von AIDS getroffenen Maßnahmen, insbesondere der Durchführung regelmäßiger Untersuchungen und sonstiger Vorbeugungsmaßnahmen sowie der behördlichen Registrierung aller Prostituierten, zuwiderlaufe. Die Strafbestimmung gegen die männliche homosexuelle Prostitution soll aus diesen Gründen aufgehoben werden.“ 168Ebd. Parallel zur Aufhebung des § 210 StGB wurde im Ausschussbericht auch ein „Ausbau der Strafbestimmungen des AIDS-Gesetzes“ durch „eine Ergänzung der Verwaltungsstrafbestimmung des § 9 AIDS-Gesetzes“ angekündigt.
Im Zuge der Plenardebatte zur Abschaffung des § 210 StGB wurden neben den Argumenten zur HIV-Prävention auch andere Diskurspunkte angesprochen. So stellte der ÖVP-Abgeordnete Michael Graff fest, dass „es eine vom Gleichheitsgebot her nicht zu rechtfertigende Tatsache [sei], daß die männliche homosexuelle Prostitution vom Gesetz anders behandelt wurde als die weibliche“. 169Ebd. Der GRÜNE-Abgeordnete Peter Pilz stellte die Wichtigkeit „des vollen Vertrauens von Seiten der Risikogruppen in die Behörden“ in den Fokus und sprach unter Verweis auf die §§ 209 und 221 StGB an, dass es „nach wie vor einige Strafbestimmungen [gibt], die dieses Vertrauen stören“. 170Ebd. Vom Klub der Grünen im Zuge dieser Debatte auch ein Zusatzantrag eingebracht, der die Novellierung des § 209 und den Entfall der §§ 220 und 221 forderte. Dieser Antrag fand keine Mehrheit. Mit der folgenden Abstimmung, in der neben der Aufhebung des § 210 auch eine Verschärfung der „Strafbestimmungen für weibliche und männliche Prostitution, um damit der Verbreitung von AIDS entgegenzuwirken“ beschlossen wurde, entfiel achtzehn Jahre nach ihrer Einführung der erste der vier Folgeparagrafen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen. 171 Zwischen 1975 und 1989 waren wegen dieser Bestimmung 474 Personen verurteilt worden. Rund zwei Drittel der Verurteilten waren unter 21 Jahren alt und bis 1985 wurde mehr als ein Drittel zu unbedingten Haftstrafen verurteilt, die meist zwischen einem und sechs Monaten lagen. 172Vgl. Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik, 78 ff. Über den Zeitraum zwischen 1971 und 1974 liegen keine entsprechenden Daten vor. Frauen, die in den entsprechenden Statistiken vorkommen, wurden als Beitrags- oder Bestimmungstäterinnen verurteilt.
Statistik der ermittelten Tatverdächtigen und Verurteilungen wegen § 210 StGB: 173Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik, 79f.; ausgewertet auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik 1975 ff. und der Gerichtlichen Kriminalstatistik 1975/1976 ff.
Jahr | Ermittelte Tatverdächtige | Verurteilungen | Davon Jugendliche | Anteil der Freiheitsstrafen in % |
---|---|---|---|---|
1975 | 57 | 43 | 14 | 83,7 |
1976 | 69 | 53 | 17 | 92,5 |
1977 | 70 | 63 | 24 | 87,3 |
1978 | 48 | 41 | 13 | 82,9 |
1979 | 56 | 48 | 15 | 89,6 |
1980 | 33 | 26 | 10 | 84,6 |
1981 | 55 | 37 | 13 | 91,9 |
1982 | 69 | 38 | 13 | 92,1 |
1983 | 42 | 38 | 9 | 81,6 |
1984 | 44 | 21 | 8 | 85,7 |
1985 | 33 | 23 | 10 | 73,9 |
1986 | 38 | 14 | 8 | 71,4 |
1987 | 24 | 15 | 9 | 80,0 |
1988 | 16 | 9 | 4 | 66,7 |
1989 | 11 | 5 | 4 | 80,0 |
Zu einer kleineren Reform der Folgeparagrafen kam es bereits ein Jahr zuvor im Zuge der Anhebung der Strafmündigkeit von 18 auf 19 Jahre im Jahr 1988. Dadurch wurden nach § 209 StGB jene Männer über 19 Jahren verfolgt, die gleichgeschlechtliche Handlungen mit Personen zwischen 14 und 18 Jahren durchführten. 174Konkret wurde durch das Jugendgerichtsgesetz 1988 (BGBl. 599, 1.1.1989) der § 209 wie folgt geändert: „Eine Person männlichen Geschlechtes, die nach Vollendung des neunzehnten Lebensjahres mit einer Person, die das vierzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen."
Bereits 1989 befasste sich der Verfassungsgerichtshof mit zwei Anträgen bezüglich einer möglichen Aufhebung des § 209. 175Vgl. VfSlg 12.182/1989. Der erste Antrag (G227/88) wurde wegen fehlender Antraglegitimation zurückgewiesen, ein nachgereichter Antrag G2/89 wurde als unbegründet abgewiesen. 176Der Antragsteller beantragte die Aufhebung des § 209 wegen Verfassungswidrigkeit „sowohl unter dem Aspekt des Gleichheitsgebotes als auch im Hinblick auf Art8 EMRK“. Seine Antragslegitimation – „er sei Homosexueller; seit seiner Pubertät sei sein geschlechtliches Empfinden als Teil seiner Persönlichkeit auf den sexuellen Kontakt mit Personen des gleichen Geschlechts ausgerichtet“, nach § 209 war er mehrmals vorbestraft. Die Bundesregierung beantragte in ihrer Stellungnahme an den VfGH die Zurückweisung des Antrags mit Verweis darauf, dass 1971 „in Österreich nach längerer rechtspolitischer Diskussion und in Übereinstimmung mit der Rechtsentwicklung vergleichbarer Staaten die bis dahin allgemeine Strafbarkeit der 'gleichgeschlechtlichen Unzucht' (§129 I b StG) im wesentlichen auf die Pönalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen mit Jugendlichen eingeschränkt worden“ war. Da der Antragsteller die Voraussetzungen eines Individualantrags nach Art 140 B-VG nicht erfüllte, wurde der Antrag vom VfGH zurückgewiesen. Der zweite, nachgereichte Antrag wurde als „zulässig, aber unbegründet“ abgewiesen. Vgl. ebd. Der Verfassungsgerichtshof stellte in Hinblick auf eine mögliche Gleichheitswidrigkeit der Bestimmungen des § 209 fest:
„Die angefochtene Strafnorm zählt zu jener Gruppe von Unrechtstatbeständen, die dem Schutz des heranreifenden jungen Menschen vor sexueller Fehlentwicklung – im unumgänglich befundenen Umfang – dient […]. So betrachtet kann dem Strafgesetzgeber aber nach Überzeugung des Verfassungsgerichtshofs unter dem Aspekt des Gleichbehandlungssatzes der Art7 Abs1 B-VG und 2 StGG nicht mit Grund entgegengetreten werden, wenn er – unter Berufung auf maßgebende Expertenmeinungen in Verbindung mit Erfahrungstatsachen den Standpunkt einnehmend, daß eine homosexuelle Einflußnahme männliche Heranreifende in signifikant höherem Grad gefährde als gleichaltrige Mädchen – auf dem Boden und in Durchsetzung seiner Wertvorstellungen […] ableitet, es sei mit einer strafrechtlichen Ahndung homosexueller Handlungen an jungen Menschen männlichen Geschlechts, wie in §209 StGB festgelegt, das Auslangen zu finden.“ 177Ebd.
Mit dieser Bekräftigung seiner ständigen Rechtsprechung zum gestalterischen Freiraum des Gesetzgebers bildete der VfGH 1989 auch die Grundlage für weitere Entscheidungen in der Frage in den kommenden Jahren.
Kapitel 4: Die Abschaffung der letzten Strafbestimmungen gegen Homosexuelle (1990-2002)
Mit dem Übergang von den 1980er- zu den 1990er-Jahren kam es zu einer grundlegenden Neuausrichtung der politischen Diskurse zum Thema Homosexualität. Wurde die Aufhebung des § 210 StGB im Jahr 1989 noch überparteilich vom gesundheitspolitischen Ziel einer wirksamen Eindämmung der HIV-Epidemie getragen, so kam es in der Folge zu einer zunehmenden Politisierung über die verbleibenden Strafrechtsbestimmungen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen. Auch die zivilgesellschaftlichen Interventionen in parlamentarische und politische Diskurse zum Thema Homosexualität nahmen in diesem Zeitraum zu. 178Nach einem ersten Antrag der Grünen, die eine Alterssenkung des § 209 auf 16 Jahre vorschlug, sei dahingehend die, von der SPÖ-Abgeordneten Waltraud Horvath eingebrachte, parlamentarische Petition zur „Abschaffung jeglicher Diskriminierung homosexueller Frauen und Männer“, die von der Homosexuellen Initiative Wien und anderen Jugendorganisationen und Interessenvertretungen gestartet worden war, und eines entsprechenden eigenständigen Antrags zur Aufhebung des §§ 209, 220 und 221 zu erwähnen. Vgl. Petition Nr. 50 NR XVII. GP. Die Zuweisung dieser Petition erfolgte zuerst an den Ausschuss für Petitionen und Bürgerinitiativen und darauffolgend an den Justizausschuss. Vgl. dazu Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 259.
Als Vorbote dieser Entwicklung kann bereits 1989 der erste eigenständige Antrag zur Schaffung eines bundesweiten Antidiskriminierungsgesetzes gesehen werden. Dieser Antrag wurde von der Abgeordneten Astrid Kuttner und dem Grünen-Klub eingebracht und unter anderem mit dem „Schutz der Homosexualität vor Diskriminierung in Gesetzgebung und Vollziehung“ begründet: „Die §§ 209, 210, 220 und 221 umschreiben sexuelle und sexuell motivierte Tätigkeiten, deren Unrechtgehalt nicht einsichtig ist und werden daher aufgehoben.“ 179Antrag 221/A-NR XVII. GP Wie Gössl in seiner Analyse parlamentarischer Debatten zum Thema Homosexualität ausführt, ist der bewusste Verzicht auf „Begrifflichkeiten wie ‚unzüchtig‘“ und die bewusste Verwendung von „zeitgemäße[n] Formen, die vor allem konkreter sein sollten“ eine Entwicklung, die Auswirkungen auf die strafrechtlichen Debatten der Folgejahre entwickelte. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 119. In Folge dieses Antrags brachte die Grüne-Abgeordnete Helga Erlinger auch die Schaffung eines eigenen Gleichbehandlungsausschusses im Nationalrat zur Auseinandersetzung mit derartigen Themenstellungen ins Spiel. 180Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 104. Sitzung XVII. GP (17.5.1989). Dass nicht auszuschließen war, dass es nach 1989 rasch zu weiteren Reformen hinsichtlich der bestehenden Folgeparagrafen kommen würde, zeigt beispielsweise die folgende Aussage der ÖVP- Bundesministerin für Umwelt, Jugend und Familie, Marilies Flemming, im Zuge einer Fragestunde des Nationalrats: „Ich möchte hier ganz klar sagen, daß ich mich gegen jegliche Diskriminierung Homosexueller ausspreche. [...] Nur, die von Ihnen angesprochenen Paragraphen [...] wird man sicher mit den Vertretern aller Parteien einmal eingehend diskutieren müssen, und es wird dann an diesem Hohen Haus liegen, ob hier eine Änderung gewünscht wird oder nicht.“ Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 99. Sitzung XVII. GP (6.4.1989). Der Antrag fand keine Mehrheit.
Zunehmend brachte sich in diesem Zeitraum auch die Zivilgesellschaft in die parlamentarischen und politischen Debatten zum Thema Homosexualität ein. Neben der HOSI Wien, die zahlreiche Stellungnahmen zu relevanten gesetzlichen Fragen einreichte, nahm ab 1991 auch das Rechtskomitee Lambda einen besonderen Stellenwert ein. Dieser Zusammenschluss von Jurist*innen und die von ihm mitinitiierte Plattform gegen § 209 wurde in den kommenden Jahren zu einem zentralen zivilgesellschaftlichen und medialen Ankerpunkt in den politischen Debatten um die verbleibenden Strafrechtsbestimmungen. 181Schon in der ersten Ausgabe der Zeitschrift des Rechtskomitees, Ius Amandi, verkündete Präsident Helmut Graupner, dass die Organisation offiziell in die Begutachtungsverfahren dreier Bundesministerien (Inneres, Gesundheit, Soziales) aufgenommen wurde und damit „zu jenen 30-40 Institutionen, deren Meinung vor der endgültigen Fassung von Gesetzesentwürfen dieser Ressorts eingeholt wird“, zählt. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi. Zeitschrift für gleichgeschlechtliche Liebe und Recht, 1/92 (1992). Auch die Plattform gegen § 209, der neben den Aids-Hilfen und Homosexuellen Initiativen der diversen Bundesländer auch die Österreichische Hochschülerschaft, der Bundesjugendring, sowie zahlreiche kleinere Vereine angehörten, entwickelte insbesondere ab Anfang der 1990er-Jahre große mediale Aufmerksamkeit. So organisierte sie bereits am 24.11.1992 eine Pressekonferenz mit Abgeordneten von SPÖ, ÖVP. FPÖ und Grünen im Österreichischen Journalistenclub. Vgl. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 2/92 (1992), 18. Die Lobby-Arbeit der Plattform gegen § 209 zeigte sich auch angesichts der vielen politischen Stellungnahmen, die sie erreichten. In der Ausgabe 2/93 der Ius Amandi wurde u.a. aus Gesprächen mit Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ, „wir werden das jetzt durchziehen“), Justizminister Nikolaus Michalek (parteilos, „Man könne nicht das Werbe- und das Vereinsverbot diskutieren und gleichzeitig an § 209 vorübergehen“), Bundespräsident Thomas Klestil, ÖVP-Justizsprecher Michael Graff („§ 209 würde heute nicht mehr eingeführt werden“) und FPÖ-Generalsekretär Herbert Scheibner („Geltende Rechtslage unhaltbar“) zitiert. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 2/93 (1993), 5 f. Zwei Ausgaben später wurde auch FPÖ-Chef Jörg Haider mit einer Stellungnahme an die Plattform gegen § 209 zitiert: „Am 21.10.1992 haben Vertreter der ‚Plattform gegen § 209‘ Dr. Jörg Haider [...] besucht [...]. Dr. Haider hat dabei versichert, daß er für die Streichung des § 209 StGB eintrete.“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 4/93 (1993), 14. Schon kurz darauf titelte die Zeitschrift in der Ausgabe 1/94 aber mit der Überschrift: „Laut ÖVP-Obmann Busek ist der ÖVP-Klub bisher noch nie mit der Problematik der Streichung des § 209 konfrontiert worden...“. Vgl. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 1/94 (1994), 4.
Kapitel 4.1.: Die turbulente Abschaffung der §§ 220 und 221
Erstmals deutlich wurde dieser Einsatz im Rahmen des Strafrechtsänderungsgesetzes 1992, bei dem es – trotz zahlreicher zivilgesellschaftlicher Aktivitäten – zu keinen Änderungen des § 209 kommen sollte. 182Wie das Rechtskomitee Lambda auswies, sprachen sich im Zuge der Begutachtung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1992 zahlreiche Organisationen (u.a. ÖH, Bundesjugendring, Gesundheitsministerium, Aids-Hilfen, Frauenministerium, Bewährungshilfe, ÖGB, AK, Generalprokuratur, sowie die Landesgerichte Innsbruck und Klagenfurt und die Staatsanwaltschaft Klagenfurt) für eine Abschaffung des § 209 aus. Negative Beurteilungen kamen u.a. vom OGH, der Vorarlberger Landesregierung, der WKÖ, der Ärztekammer, sowie den OLG Graz und Wien. Vgl. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 2/92 (1992), 15. Bereits im Entwurf des Justizministeriums wurde jedoch eine Abschaffung der §§ 220 und 221 vorgeschlagen, da diese „seit der Zeit ihrer Einführung immer mehr an Bedeutung verloren [haben], sodaß man aus heutiger Sicht nahezu von ‚totem Recht‘ sprechen kann.“ 183Ministerialentwurf 107/ME XVIII. GP. Festgestellt wurde dabei auch, dass „nunmehr von weitestgehender Übereinstimmung ausgegangen werden kann, daß die Regelungen der §§ 220 und 221 StGB entbehrlich bzw. diskriminierend sind“, aber:
„Der vorliegende Entwurf sieht noch keine Beseitigung aller für die Homosexualität geltenden Sonderregelungen des Strafgesetzbuches vor. […] Der Umstand, daß die Aufhebung (auch) des § 209 StGB im vorliegenden Entwurf […] nicht vorgeschlagen wird, ist jedoch nicht dahin zu verstehen, daß die Aufrechterhaltung dieser Regelung auch künftig und ohne weitere Diskussion als erforderlich oder wenigstens als vertretbar angesehen werden kann.“ 184Ebd. 105
Dieser Ministerialentwurf und die dazu eingebrachten Stellungnahmen sollten schließlich als Basis für den Entwurf zum Strafrechtsänderungsgesetz 1996 dienen.
In den Folgejahren waren es insbesondere Abgeordnete der Grünen und teilweise der Regierungspartei SPÖ, die mit zahlreichen parlamentarischen Anfragen die bestehenden Strafrechtsbestimmungen zur Homosexualität in den Fokus rückten. 185Bereits 1990 brachte der Grüne-Abgeordnete Manfred Srb Anfragen an mehrere Bundesministerien ein, so beispielsweise betreffend „Diskriminierung von Homosexuellen“ an den Bundesminister für Justiz. Vgl. 5694/J XVII. GP. Die SPÖ-Abgeordnete Waltraud Schütz erneuerte die Einbringung der bereits erwähnten Petition „Abschaffung von Diskriminierung homosexueller Frauen und Männer“ (vgl. FN 170) auch nach Beginn der nächsten Legislaturperiode im Juni 1991. Das Ziel zahlreicher parlamentarischer Initiativen blieb aber auch in den 1990er- Jahren vor allem das Thema HIV/AIDS, womit der Adressat parlamentarischer Anfragen vor allem das für Gesundheit zuständige Mitglied der Bundesregierung wurde. Doch auch diese Debatten hatten partiellen Bezug zur Frage des Strafrechts, wie der Fall der Beschlagnahmung der Broschüre „Schwuler Sex. Sicher“ zu Beginn der 1990er-Jahre zeigte: Diese Broschüre der Deutschen AIDS-Hilfe wurde bei der Lieferung nach Österreich von der Zollbehörde aufgrund möglicher Verstöße gegen das Werbeverbot nach § 220 StGB bzw. das Pornographiegesetz eingezogen, ein Verfahren vor dem Wiener Straflandesgericht folgte. Politisch kritisiert wurde dabei nicht nur die HOSI Wien und die Aids Hilfe Wien, sondern auch die Bundesregierung. 186Auf eine von der FPÖ eingebrachte parlamentarische Anfrage diesbezüglich antwortete der (parteilose) Bundesminister für Justiz Nikolaus Michalek u.a.: „Vielmehr bedient sich das Druckwerk einer äußerst drastischen Diktion und einer vom Thema Aids-Prävention im überwiegendem (sic!) Maße nicht zwingend indizierte (sic!) Illustration [...]. Zweifellos stehen jedoch Fragen der Aidsverhütung im Vordergrund. [...] Die Anwendung des § 220 StGB wird von der Staatsanwaltschaft Wien verneint, weil aus Bild und Text weder Aufforderung zu homosexuellen Praktiken noch ein Werben für homosexuellen Verkehr abzuleiten ist.“ Anfragebeantwortung 5738/AB-NR XVIII. GP. Mit Kenntnis des Bundesministeriums für Justiz kam es durch die Staatsanwaltschaft schließlich zu einer „Zurücklegung der Strafanzeige“. 187Ebd.
Bereits in dieser Zeit kam es auch zu Austauschgesprächen zwischen dem Justizminister und der Plattform gegen § 209. 188Dem Protokoll einer Besprechung von Justizminister Michalek und Sektionschef Miklau mit Vertretern der Plattform gegen § 209 vom 30.3.1993 ist zu entnehmen, dass der Minister sich betreffend dem § 209 „für eine Diskussion auf breiter Basis (insb. auf parlamentarischer Ebene) einsetzen wird“, der zu diesem Zeitpunkt erarbeitete Ministerialentwurf einer Strafrechtsreform jedoch „die Streichung des § 209 StGB nicht ausdrücklich vorgeschlagen [hat], sondern lediglich zur Diskussion gestellt“ hat. BMJ, Erinnerungsnotiz 4723/7-IV 5/95 (Beilage). In Folge der Kontroverse um die eingezogene Broschüre der Aids-Hilfen wurde von der SPÖ-Abgeordneten Elisabeth Hlavac jedoch per Initiativantrag die Änderung des Pornographiegesetzes gefordert und mit Verweis auf die Verhandlungen zum Strafrechtsänderungsgesetz 1994 festgestellt, dass dieses vorsehen wird, die „Strafbestimmungen §§ 220 […] und 221 STGB […] ersatzlos aufzuheben“. 189Antrag 712/A-NR XVIII. GP (6.4.1994). Sie verwies damit auf die Regierungsvorlage zum Strafrechtsänderungsgesetz 1994, die am 22. März 1994 den Ministerrat passierte. In dieser war die Streichung der §§ 220 und 221 vorgesehen. Bezüglich des § 209 schlug die Regierung vor, „zumal die Begutachtungsstellungnahmen zur ersatzlosen Streichung überwiegend positiv ausgefallen sind“, diese Frage in die Beratungen aufzunehmen. 190Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 1/94 (1994), 7.
Zur Beschlussfassung dieses Strafrechtsänderungsgesetzes 1994 kam es jedoch vor Ende der Legislaturperiode nicht mehr. 191Zwar wurde am 12. April 1994 ein eigener Unterausschuss des Justizausschusses zur Beratung über die Strafrechtsänderung eingesetzt, doch aufgrund der Wahlen vom 9. Oktober 1994 und der rasch folgenden Neuwahlen vom 17. Dezember 1995 verschoben sich die Verhandlungen bezüglich Strafrechtsreform in die 20. Legislaturperiode. Mehrere parlamentarische Initiativen – beispielsweise ein Antrag der Grüne-Abgeordnete Terezija Stoisits zur Streichung der §§ 209, 220, 221 StGB (Antrag 394/A(E) 12.10.1995) – wurden daher nicht behandelt oder blieben ohne Mehrheiten. Die Verhandlungen bezüglich der §§ 220 und 221 wurden daher in die nächste Gesetzgebungsperiode aufgeschoben. In der, sehr kurzen, XIX. Legislaturperiode des Nationalrats wurden mögliche Reformen 1995 einem neuen Unterausschuss des Justizausschusses zur Beratung zugeleitet, der am 10. Oktober 1995 eine „Anhörung von ExpertInnen zu den §§ 209, 220 und 221 StGB“ durchführte. 192Geladen wurden 13 Expert*innen aus den Bereichen Justiz, Psychiatrie und Psychotherapie, sowie Theologie. Bemerkenswert erscheint, verglichen zu ähnlichen Anhörungen in früheren Justizausschüssen, die starke zivilgesellschaftliche Repräsentation. So befanden sich unter den Expert*innen Helmut Graupner (Sprecher der Plattform gegen § 209, Rechtskomitee Lambda), Judith Hutterer (AIDS-Komitee, Fachärztin), Manfred Nowak (Ludwig Boltzmann-Institut für Menschenrechte), sowie mit Christian Michelides und Waltraud Riegler zwei Vertreter*innen des Österreichischen Lesben- und Schwulenforums (ÖLSF). Vgl. dazu Österreichischer Nationalrat, Unterauschuß des Justizausschusses, Zusammenfassende Darstellung der Expertenanhörung zu den §§ 209, 220, 221 StGB (10.10.1995): http://www.paragraph209.at/pdf/Unteraussschuss95.pdf Dieses Prozedere wurde von Grünen und LiF, aber auch von Gruppierungen der LGBTIQ-Community als „Verzögerungstaktik“ bezeichnet, da „das Thema zeitaufwendige Prozeduren des politischen Systems durchlaufen musste“. 193Repnik, Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich, 63.
Die XX. Legislaturperiode des Nationalrats begann 1996 mit einem Unikum. Als einer der ersten Anträge wurde bei der konstituierenden Sitzung des Nationalrats vom SPÖ- Abgeordneten Willi Fuhrmann ein Antrag zur ersatzlosen Aufhebung der Strafbestimmungen nach §§ 209, 220 und 221 eingebracht: „Die österreichische Rechtsordnung sollte im Bereich des Sexualstrafrechts keine geringere Menschenrechtskonformität aufweisen, als dies in den meisten anderen Staaten der Fall ist.“ 194Antrag 1/A-NR XX. GP (15.1.1996). Fuhrmann verwies in diesem Antrag darauf, dass die Befürchtung „ein Liebesverhältnis zwischen einem jungen Mann und einem Erwachsenen könnte den jungen Mann homosexuell prägen und ihn zu einem heterosexuellen Geschlechtsleben unfähig machen“ für die Schaffung der verbleibenden Folgeparagrafen ausschlaggebend gewesen sei. Diese Prägungstheorie sei jedoch durch „verlässliche Untersuchungen oder wenigstens gesicherte Beobachtungen“ widerlegt worden. Auch die Grüne-Abgeordnete Terezija Stoisits stellte im Zuge der ersten Plenarsitzung einen entsprechenden Antrag: „Österreich ist eines der letzten Länder in Europa, in dem homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter 18 Jahren ein Offizialdelikt darstellen, während heterosexuelle Handlungen mit Jugendlichen ab 14 Jahren straffrei sind.“ 195Antrag 2/A-NR XX. GP (15.1.1996). Auch das Liberale Forum brachte einen Antrag mit derselben Zielsetzung ein. 196Antrag 11/A-NR XX. GP (15.1.1996). Damit war eine zentrale politische Fragestellung der 20. Legislaturperiode bereits zu ihrem Beginn definiert. 197Dass die Prägungstheorie auch 1996 noch für Diskussionen sorgte, zeigt die Debatte zu einem Fristsetzungsantrag des Liberalen Forums in der 5. Sitzung des Nationalrats. Dort stellte die ÖVP- Abgeordnete Maria Fekter mit Verweis auf Ausschussanhörungen zu den Strafrechtsreformplänen 1994/1995 fest: „Dort ist nämlich [...] klar gesagt worden, daß durch Erwachsene sehr wohl ein Einfluß auf die sexuelle Identitätsentwicklung der Jugendlichen ausgeübt werden kann, und zwar deshalb, weil die Zahl der Homosexuellen relativ gering ist und daher die Wahrscheinlichkeit, daß man Jugendliche sucht, die ihre Identität noch nicht gefunden haben, groß ist.“ Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 5. Sitzung XX. GP (31.1.1996). Der Fristsetzungsantrag des LIF wurde abgelehnt, ein weiterer Sammel-Fristsetzungsantrag der SPÖ, der die Behandlung der ersten elf eingebrachten Anträge der Periode bis 1.11.1996 vorsah, aber mehrheitlich angenommen. Ebd., 6. Sitzung XX. GP (31.1.1996).
Schon rasch nach Beginn der Debatten zeigte sich 1996, dass Debatten hinsichtlich der verbliebenen Strafbestimmungen sich zunehmend um das Thema Jugendschutz, konkret um den § 209, drehten. Die §§ 220 und 221 wurden im Zuge dieser Debatten mitdiskutiert – die Frage des Schutzalters für männliche Jugendliche stand aber im Zentrum. Auch in der abschließenden Debatte zur Strafrechtsreform 1996 betonten die Redner im Nationalrat diese Fokussierung mit der Tatsache, „daß in der Strafrechtspraxis diese beiden Paragraphen (§§ 220, 221, Anm.) nur wenig Bedeutung hätten, nur wenige Fälle vorgekommen seien“. 198Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 47. Sitzung XX. GP (27., 28.11.1996).
Die Zivilgesellschaft mischte sich 1996 stark in die Debatte zur Strafrechtsreform ein:
„In der 20. Sitzung wurde eine Bürgerinitiative mit der Ordnungsnummer 3 an das österreichische Parlament herangetragen, die sich mit der rechtlichen und sozialen Gleichstellung homosexueller Menschen befasste. Das Einlangen wurde formal bestätigt und dem entsprechenden Ausschuss für Bürgerinitiativen und Petitionen zugewiesen.“ 199Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 149. Bezugnehmend auf BI Nr. 3 XX. GP mit Erstunterzeichner Heinz Schubert, Vereinsvorsitzender der Rosalila PantherInnen, Schwul-lesbische ARGE Steiermark.
Doch auch Gegner*innen einer Aufhebung der verbleibenden Straftatbestände gegen gleichgeschlechtliche Handlungen, insbesondere einer Aufhebung des § 209, meldeten sich zu Wort. In den Akten des BMJ findet sich dahingehend ein Offener Brief des Personenkomitees zum Schutz unserer Jugend, das neben den Abgeordneten auch dem Justizminister zugestellt wurde:
„Es ist bedrückend, wenn sich Abgeordnete von einem vermeintlichen ‚Zeitgeist‘ und aggressiven Schwulenzirkeln beeinflussen lassen. Ehe Sie aber noch heuer darüber abstimmen, horchen Sie in die Bevölkerung und nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir unsere 14-18jährigen Söhne und Enkel weiterhin vor den Praktiken homosexueller Erwachsener geschützt haben wollen! Ferner wollen wir weiterhin den Schutz unserer Schüler vor homosexueller Propaganda, sowie insgesamt einen Schutz Jugendlicher vor homosexuellen Institutionen und Praktiken Erwachsener.“ 200BMJ, Zl. 1080/32-IV 2/96.
Die Hitzigkeit der Debatte zeigte auch eine Anfrage der LiF-Abgeordneten Heide Schmidt nach einem Urteil wegen eines Verstoßes gegen § 209. 201Konkret handelte es sich dabei um ein Verfahren gegen einen 28-jährigen Mann, der wegen sexueller Kontakte mit jungen Männern zwischen 15 und 17 Jahren, zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt worden war. (GZ 8a Vr 14828/93 Hv 2233/95). Das medial viel diskutierte Verfahren beruhte dabei jedoch nur auf Kalendereinträgen des Angeklagten mit dem geschätzten Alter und Fotos seiner Sexualpartner, die Namen der Personen waren nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft Wien und das weisungsbefugte Justizministerium standen daher in Kritik. Vgl. Anfrage 986/J, XX. GP (8.2.1996). Bemerkenswert an der Beantwortung des Bundesministeriums für Justiz ist, wie Gössl ausführt, dass man sich „auf juristische Zitate und Erklärungen zum Ablauf der Anklageerhebung [beschränkte], [...] wobei niemals die Erwähnung des § 209 StGB vorkam“. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 152. Daraus scheint deutlich zu werden, dass seitens des Justizministeriums keine Stellung hinsichtlich der nahenden Abstimmung über die §§ 209, 220 und 221 bezogen werden sollte. Angesichts der beschriebenen Reformvorschläge und Anträge brachte auch die ÖVP durch die Abgeordnete Maria Fekter einen eigenen Antrag ins Parlament und bot damit Reformen der §§ 220 und 221, sowie eine Teilreform des § 209 – insbesondere eine Straffreiheit in Fällen, in denen „das Alter des Täters das Alter des Jugendlichen nicht um mehr als zwei Jahre“ übersteigt – an. 202Antrag 300/A-NR XX. GP (2.10.1996). In der Begründung argumentierten die Antragssteller*innen für eine Modernisierung von Begriffen wie ‚gleichgeschlechtliche Unzucht‘ angesichts des „heutigen Verständnis[ses] der Homosexualität“, dafür „die in § 220 StGB enthaltenen unterschiedlichen Tatbilder zu trennen“ und angesichts des § 209 wie folgt: „Die unterschiedliche Entwicklung weiblicher und männlicher Jugendlicher ist nach Ansicht der Antragssteller eine ausreichende rechtliche Grundlage für eine unterschiedliche Regelung männlicher und weiblicher gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte.“ Dabei wurde auch auf entsprechende Urteile des Verfassungsgerichtshofes verwiesen.
Die Abstimmung über das Strafrechtsänderungsgesetz 1996 fand schließlich am 27. und 28. November 1996 statt. Debattiert wurden neben dem Bericht des Justizausschusses auch die bereits angesprochene Bürgerinitiative 3. Für die Abstimmung im Plenum war von den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP bemerkenswerterweise ein koalitionsfreier Raum geschaffen worden, wodurch die beiden Parteien ohne Koalitionsbruch unterschiedlich abstimmen konnten. 203Repnik, Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich, 63-64.
In der hitzig geführten Debatte im Plenum des Nationalrats positionierte sich die ÖVP unter Verweis auf die Bedeutung der bestehenden Folgeparagrafen, wenn auch in reformierter Form, für deren Beibehaltung. Die Abgeordneten von SPÖ, Grünen und LiF setzten sich durchwegs für eine Streichung der §§ 209, 220 und 221 ein. 204Eine ausführliche Nachschau der Debattenbeiträge im Zuge dieser Sitzung des Nationalrats liefert Gössl. Vgl. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 153-182. Bemerkenswerterweise brachte der SPÖ-Abgeordnete Fuhrmann in seiner Rede auch einen gemeinsamen Abänderungsantrag des Ausschussberichtes, unterstützt von SPÖ, Grünen und LiF, ein, der den ersatzlosen Entfall dieser Paragrafen forderte. 205Bericht des Justizausschusses über die Regierungsvorlage 33 der Beilagen, in: 409 der Beilagen Stenographisches Protokoll des Nationalrats XX. GP. Die bisher genannten Anträge hatten im Justizausschuss keine Mehrheit erreicht und wurden im Ausschussbericht daher negativ aufgeführt. Der gemeinsame Abänderungsantrag von SPÖ, Grünen und LiF ermöglichte gemäß der Geschäftsordnung des Nationalrats nun eine Abstimmung durch die Ergänzung einer neuen Ziffer im Ausschussbericht: „Der Gesetzesantrag im Bericht des Justizausschusses (409 der Beilagen) wird wie folgt geändert: In Art. I wird nach Z 26a eine neue Z 26b eingefügt, welche lautet: ‚26b. Die §§ 209, 220 und 221 entfallen.‘“
Die FPÖ brachte einen eigenen Kompromiss-Antrag ein, der die Schutzaltersgrenze nach § 209 von 18 auf 16 Jahre senken sollte. 206Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 47. Sitzung XX. GP (27., 28.11.1996). Ein späterer Abänderungsantrag der FPÖ schlug außerdem die Trennung der strafrechtlichen Bestimmungen zur Werbung für Unzucht mit Tieren von denen zur Werbung für gleichgeschlechtliche Handlungen vor. Ein anderer Abänderungsantrag der ÖVP sah im Zuge der Debatte außerdem die Beibehaltung der geltenden Bestimmungen des § 209 bei gleichzeitiger Etablierung der Begrifflichkeit „gleichgeschlechtliche Handlung“ statt „gleichgeschlechtliche Unzucht“ vor und schlug die Einführung einer Toleranzgrenze von zwei Jahren, entsprechend der bereits seitens der ÖVP etablierten Vorschläge, vor. Ebd. Justizminister Nikolaus Michalek meldete sich nach der ersten Runde der Redebeiträge zu Wort:
„Entscheidungsreif […] erscheint mir aber die Frage der besonderer Sexualstraftatbestände im homosexuellen Bereich. Seit dem Ministerialentwurf des Strafrechtsänderungsgesetzes 1994, in dem vom Bundesministerium für Justiz die Streichung der §§ 220 und 221 StGB vorgeschlagen und die Bestimmung des § 209 zur Diskussion gestellt wurde, hat es eine breite rechtspolitische Debatte zur Frage der Notwendigkeit besonderer Strafbestimmungen im Bereich der Homosexualität gegeben. […] Ich meine, daß die Diskussionen seit der Regierungsvorlage des Strafrechtsänderungsgesetzes 1994 keine Ergebnisse gezeitigt haben, die ein Abgehen von dem damaligen Vorschlag der Bundesregierung, die §§ 220 und 221 StGB ersatzlos zu streichen, nahelegen, und das Expertenhearing im parlamentarischen Unterausschuss gute Gründe dafür aufgezeigt hat, auch § 209 StGB zu streichen.“ 207Ebd. Argumentativ berief sich der Justizminister darauf, dass auch nach Entfall des § 209 „die Strafandrohung gegen den Mißbrauch eines Autoritätsverhältnisses, also die Ausnützung der Stellung als Erziehungs-, Ausbildungs- oder Aufsichtsberechtigten eines Minderjährigen zu sexuellen Handlungen, bestehen bleibt“. Weiters verwies der Bundesminister auf den internationalen Rechtstrend, entsprechende Entschließungen durch den Europarat und das Europäische Parlament und die „grundsätzliche rechts- und demokratiepolitische Bedeutung“ einer Abschaffung für homosexuelle Jugendliche.
Am Ende der Debatte folgte eine, aufgrund „der vielen Anträge, der Bürgerinitiative und der schließlich mehrfach eingebrachten Abänderungsanträge […] ungewöhnlich aufwändig[e] und langwierig[e]“ Abstimmung, die in manchen Fällen auch namentlich durchgeführt wurde. Dabei wurde der Zusatzantrag von SPÖ, Grünen und LiF zur Abschaffung aller Folgeparagrafen mit 91 zu 91 Stimmen abgelehnt. Die Anträge von ÖVP und FPÖ zur Reform des § 209 fanden keine Mehrheit. Weitere Zusatzanträge von SPÖ, LiF und Grünen zur Streichung des § 220 (mit 90 zu 89 Stimmen) und des § 221 (mit 72 Mehrstimmen, gegen die ÖVP) wurden angenommen. Damit entfielen die Regelungen des Werbe- und Verbindungsverbotes, während der § 209 weiter bestehen blieb.
Kapitel 4.2: Die Auswirkungen der Strafverfolgung wegen der §§ 209, 220 & 221
Wie bereits ins Kapitel 4.1. dargestellt wurde, erfolgte die strafrechtliche Verfolgung der §§ 220 und 221 in geringem Ausmaß. Insgesamt wurden zwischen 1975 und 1996 vier Verurteilungen in den Jahren 1982, 1983, 1984 und 1990 erhoben. 208Diese Verurteilungen betrafen drei Männer und eine Frau. Über den Zeitraum zwischen 1971 und 1974 liegen keine Daten vor. Die Auswertung des Bundesministeriums für Justiz erlaubt nur eine gemeinsame Auswertung nach beiden Paragrafen. Erstaunlich ist, dass auch nach Aufhebung der beiden Paragrafen noch Verurteilungen in der Gerichtlichen Kriminalstatistik aufscheinen – konkret je eine in den Jahren 1997, 1998, 1999, 2000 und 2002. Es dürfte sich dabei um Datenfehler aus redaktioneller Sicht handeln. Vgl. Anfragebeantwortung 6537/AB XXVII. GP (12.7.2021). Es kann daher festgestellt werden, dass die beiden Paragrafen vor allem abschreckenden Charakter gegen den öffentlichen Einsatz für die Rechte Homosexueller haben sollten – eine Wirkung die sie, wie zahlreiche Debatten rund um Vereinsgründungen in den 1980er-Jahren zeigen durchaus erfüllten. Durch die §§ 220 und 221 schwebten, wie Weingand formuliert, „das Werbe- und Verbindungsverbot stets wie ein Damoklesschwert vor allem über der österreichischen Lesben- und Schwulenbewegung“. 209Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik, 79.
Anders gestaltete es sich jedoch hinsichtlich der Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen nach § 209. Bevor im folgenden Unterkapitel daher auf die Aufhebung dieser letzten Strafbestimmung eingegangen wird, soll nachfolgend ein Überblick über Intensität und Auswirkung der Strafverfolgung nach § 209 gegeben werden.
Zwischen 1972 und 2002 wurden in Österreich 2.608 Fälle polizeilich ermittelte Fälle von möglichen Verstößen gegen § 209 StGB registriert. Dabei wurden 1.757 Tatverdächtige ermittelt und 1.035 Verurteilungen ausgesprochen. 210Helmut Graupner, Homosexualität und Strafrecht in Österreich. Eine Übersicht (2001, Fassung 17.8.2003). Graupner führt zu den entsprechenden Statistiken in einer Veröffentlichung der Plattform gegen § 209 aus:
„Die Anzeigen und Verurteilungen sinken beständig, insbesondere in den letzten Jahren. Ihre Anzahl betrug in den Neunzigern nur mehr ein Viertel des Ausmaßes zur Zeit der Erlassung des Sondermindestalters Anfang der siebziger Jahre. Allerdings stieg die Zahl Ende der Neunziger Jahre wieder an. 1998 erreichten die Verurteilungen den Höchststand der vorangegangen 10 Jahre. Die Verurteilungsquote liegt im Wesentlichen zwischen 60 und 80% der ermittelten Tatverdächtigen, wobei dieser Anteil in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat und sich um die 80% bewegt.“. 211Ebd.
Statistik der ermittelten Tatverdächtigen und Verurteilungen wegen § 209 StGB:. 212Weingand, Homosexualität und Kriminalstatistik, 79f.; ausgewertet auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik 1975 ff. und der Gerichtlichen Kriminalstatistik 1975/1976 ff.
Jahr Ermittelte | Tatverdächtige | Davon Jugendliche | Verurteilungen | Anteil der Freiheitsstrafen in % | Unbedingte Freiheitsstrafen in % |
---|---|---|---|---|---|
1972 | 127 | 6 | 57 | 100 | 38,6 |
1973 | 109 | 9 | 60 | 100 | 38,4 |
1974 | 136 | 6 | 47 | 100 | 27,7 |
1975 | 67 | 1 | 43 | 79,1 | 30,2 |
1976 | 76 | 1 | 51 | 92,2 | 37,2 |
1977 | 83 | 3 | 52 | 88,5 | 32,7 |
1978 | 80 | 0 | 34 | 76,5 | 26,5 |
1979 | 68 | 1 | 65 | 89,2 | 29,2 |
1980 | 60 | 5 | 33 | 93,9 | 36,4 |
1981 | 71 | 0 | 55 | 89,1 | 32,7 |
1982 | 83 | 1 | 29 | 89,7 | 27,6 |
1983 | 51 | 1 | 51 | 90,2 | 31,4 |
1984 | 81 | 0 | 40 | 85,0 | 25,0 |
1985 | 41 | 0 | 42 | 85,7 | 38,1 |
1986 | 45 | 0 | 24 | 91,7 | 33,3 |
1987 | 41 | 0 | 32 | 87,5 | 28,1 |
1988 | 51 | 1 | 38 | 81,6 | 21,1 |
1989 | 28 | 1 | 31 | 74,2 | 16,1 |
1990 | 37 | 1 | 31 | 67,7 | 6,5 |
1991 | 29 | 1 | 14 | 64,3 | 21,4 |
1992 | 32 | 2 | 14 | 78,6 | 7,1 |
1993 | 46 | 0 | 19 | 63,2 | 15,8 |
1994 | 44 | 2 | 23 | 69,9 | 30,4 |
1995 | 27 | 3 | 17 | 88,2 | 17,6 |
1996 | 26 | 1 | 16 | 93,8 | 20,0 |
1997 | 39 | 1 | 26 | 80,8 | 19,2 |
1998 | 44 | 1 | 35 | 74,3 | 11,4 |
1999 | 36 | 0 | 28 | 67,9 | 14,3 |
2000 | 28 | 0 | 10 | 90,9 | 20,0 |
2001 | 46 | 1 | 18 | 83,3 | 16,7 |
2002 | 25 | 0 | 19 | 94,7 | 0,0 |
Bei den „typische[n] Angezeigte[n]“ war die Gruppe der Über-40-Jährigen unterrepräsentiert, die meisten Betroffenen waren zwischen 18 und 39 Jahren alt. Durch die Anhebung der Strafmündigkeit auf 19 Jahre sei im Jahr 1987 die Zahl der angezeigten Personen unter 20 Jahren „nicht verringert sondern – deutlich – erhöht“ worden.. 213Graupner, Homosexualität und Strafrecht in Österreich, 17. 48,5 Prozent der zwischen 1975 und 2000 wegen § 209 Verurteilten waren vorbestraft – 21,7 Prozent davon einschlägig, also wegen Sittlichkeitsdelikten.. 214Weingand, Homosexualität und Strafstatistik, 84.
Der Anteil der verhängten Freiheitsstrafen lag bis Ende der 1980er-Jahr fast durchgehend über 80% und sank in den 1990er-Jahren auf bis zu 60%, nur um in den letzten Jahren der Wirksamkeit des Paragrafen wieder deutlich anzusteigen. Die Freiheitsstrafen reizten dabei den gesetzlich möglichen Rahmen häufig aus und lagen zwischen einem und drei Jahren Freiheitsstrafe, wobei seit 1985 keine Freiheitsstrafe über drei Jahren mehr verhängt wurde. Bei Ersttätern lag die Freiheitsstrafe durchschnittlich zwischen sechs Monaten und einem Jahr.. 215Dazu führt Graupner auch periodische Schwankungen aus: „Besonders bemerkenswert erscheint die Verschärfung der Strafpraxis im Jahre 1995. Der Anteil der Freiheitsstrafen stieg auf den höchsten Stand der letzten 10 Jahre (88,2%; 1996: 93,8%). Seit dem Jahre 1986 (91,7%) wurden nicht mehr so viele Freiheitsstrafen nach § 209 verhängt (z.B. 1994: 69,6%).“ Graupner, Homosexualität und Strafrecht in Österreich, 21. Auch von den Möglichkeiten außerordentlicher Strafmilderung und damit Verurteilungen unter sechs Monaten wurde in manchen Fällen Gebrauch gemacht.
Tendenziell kam es im letzten Jahrzehnt der Anwendung des § 209 zu einem leichten Anstieg der unbedingt verhängten (Teil)Strafen und einer häufigeren Betroffenheit jüngerer Männer – so waren im Jahr 1994 „34% der Angezeigten unter 25 Jahre alt, 10% gar unter 20 und 5% unter 19, so waren 1995 sogar 11% (zwischen 14 und) unter 16 Jahre alt“. Obwohl gemäß dieser Bestimmung Jugendliche und Frauen nur Beitrags- oder Bestimmungstäter*innen sein konnten, „ist erstaunlich, wie oft die Polizei auch Jugendliche zur Anzeige brachte“.. 216Weingand, Homosexualität und Strafstatistik, 83. Zivilgesellschaftliche Gruppen begannen zum Ende der 1990er-Jahre hin, die wegen § 209 Verurteilten als „Gewissensgefangene“ zu bezeichnen – eine Bezeichnung, die in dieser Formulierung auch ab 2001 von Amnesty International so akzeptiert wurde. So berichtete das Rechtskomitee Lambda noch kurz vor der Aufhebung der letzten Strafbestimmung über die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage zu Inhaftierungszahlen nach diesem Paragrafen: „[Justizminister] Böhmdorfer gibt zu: derzeit fünf Gewissensgefangene!“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 2/02 (2002), 3.
Kapitel 4.3. Die Aufhebung des § 209 durch den VfGH
In Folge der turbulenten Aufhebung der §§ 220 und 221 rückten, zumindest auf Ebene des Parlaments und der Bundesregierung, Debatten zum Thema Homosexualität und Strafrecht in den direkten Folgejahren etwas in den Hintergrund. Neben parlamentarischen Anfragen zum letzten bestehenden Strafrechtsparagrafen wurde das Thema Homosexualität zunehmend auch aus anderen Blickwinkeln diskutiert. 217Neben Fragen des Schutzalters nach § 209 und ersten Anläufen zur Gleichstellung im Familienrecht wurden erstmals Fragen bezüglich des internationalen Einsatzes gegen Homophobie gestellt. Vgl. u.a. Anfrage 4498/J-NR X. GP. Mit der Ratifizierung des Vertrags von Amsterdam im Sommer 1998 durch den Nationalrat erlangte erstmals auch ein Anti-Diskriminierungstatbestand aufgrund der sexuellen Orientierung auf europäischer Ebene in Österreich Wirkung. Vgl. Anfrage 4507/J-NR (28.5.1998) und 4173/J-NR (17.9.1998), beide XX. GP. Als neue diskursive Grundlage entwickelte sich in Folge der gescheiterten Versuche, auch den § 209 im Parlament aufzuheben, der Vorschlag, entsprechend verurteilte Personen dem Bundespräsidenten zur Begnadigung vorzuschlagen. 218Vgl. u.a. Anfrage 3170/J-NR XX. GP (5.11.1997). Wie Bundesminister Michalek in einer Anfragebeantwortung ausführt, waren nach § 209 Verurteilte „nach den vom Herrn Bundespräsidenten gebilligten Richtlinien für die Weihnachtsgnadenaktion seit 1996 [...] nicht mehr ausgeschlossen“. Anfragebeantwortung 3175/AB-NR (22.1.1998). Dahingehend betonte der Justizminister in einer Anfragebeantwortung, dass derartige Entscheidungen „nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls nicht nur nach Maßgabe der Gnadenwürdigkeit und der Gnadengründe, sondern auch im Lichte der in der allgemeinen Diskussion vorgetragenen Argumente“ getroffen würden. 219Ebd.
Zu einer Weichenstellung durch Justizminister Michalek kam es dahingehend im Herbst 1996: „Michalek lenkt ein! Weihnachtsamnestie künftig auch für verurteilte Homosexuelle“ – titelte die Zeitschrift Ius Amandi. Ein Jahr zuvor hatte das Ministerium dies noch abgelehnt. 220Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 3/96 (1996), 2. In einem Brief des Ministersekretariats an die Plattform gegen § 209 wurde 1995 noch mitgeteilt, dass eine entsprechende Zusicherung, wonach Verurteilte nach den Strafbestimmungen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen „in das Weihnachtsbegnadigungsverfahren einbezogen werden sollen, im Bundesministerium für Justiz nicht in Evidenz ist“. BMJ, Brief an Plattform gegen § 209 (23.8.1995) Die Plattform hatte Minister Michalek zuvor unter Verweis auf den Ausschluss von Verurteilten nach den §§ 209, 220 und 221 aus dem Erlass zur „Gnadenaktion aus Anlaß des Weihnachtsfestes 1995“ (Zl. 4723/i-IV 5/95) um Klarstellung ersucht und auf eine Zusicherung im Rahmen einer Besprechung im Jahr 1993 hingewiesen. In einer Erinnerungsnotiz des Justizministeriums vom 2.8.1995 wurde dahingehend festgehalten, dass sich der Minister „an die Abgabe einer solchen Erklärung nicht erinnern“ könne, aber „der Auffassung [sei], daß ein genereller Ausschluß von Verurteilten nach den obigen Strafbestimmungen von Begnadigungen in einem Widerspruch zu den Bemühungen des BMJ um eine Abschaffung dieser Strafbestimmungen steht“. BMJ, Aktennotiz 4723/7-IV 5/95 (2.8.1995). Unterlagen des BMJ aus dem Jahr 1995 wiesen deshalb noch auf die prognostischen Herausforderungen und den damit einhergehenden hohen Aufwand der Prüfung von Einzelfällen hin:
„Die Bindung an den Gnadenanlaß des Weihnachtsfestes und die Notwendigkeit, dem Bundespräsidenten nur Strafgefangene zur WB [Weihnachtsgnadenaktion] vorzuschlagen, von denen künftiges Wohlverhalten erwartet werden kann, hat das BMJ […] stets veranlaßt, bestimmte Gruppen von Strafgefangenen von vornherein aus dem WB-Verfahren auszuschließen. […] Es wird also keineswegs in diskriminierender Weise zwischen homo- und heterophiler Sexualdelinquenz unterschieden.“ 221BMJ, 4. Einlageblatt zu JMZ 4.723/6-IV 5/95.
Einem Schreiben des Rechtskomitees Lambda antwortete Bundespräsident Klestil hinsichtlich dieser Bedenken im August 1995, dass er, anders als seine Amtsvorgänger, „davon aus[gehe], daß bei keiner Straftat bzw. bei keiner Tätergruppe a priori das Vorliegen von besonderen Umständen, die eine Begnadigung rechtfertigen, ausgeschlossen werden kann“. 222Österreichische Präsidentschaftskanzler an Rechtskomitee Lambda (10.8.1995). Nach der erwähnten Anfragebeantwortung hob der Justizminister den Ausschluss von Verurteilten nach den §§ 209, 220 und 221 von der Weihnachtsamnestie auf. Bereits Ende 1996 wurde ein erster, wenn auch aus anderen Gründen, Verurteilter von Bundespräsident Klestil begnadigt. 223Begnadigt wurde am 12.8.1996 ein Mann, der am Landesgericht Leoben verurteilt wurde, weil er mit dem Auto seines Lebensgefährten angehalten wurde – einer Tat, die zwischen heterosexuellen Partnern keine Straftat darstellen würde. Der Bundespräsident wandelte die Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe von 120 Tagsätzen um. Vgl. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 5/96 (1996), 1.
Bereits Ende 1996 setzte Justizminister Nikolaus Michalek eine eigene Arbeitsgruppe zur Reform des Sexualstrafrechts ein. Diese nahm Anfang 1997 ihre Tätigkeit auf und war mit einer Klärung des „grundlegenden Reformbedarfs, aber auch im Hinblick auf neue Erscheinungsformen der Ausbeutung im Sexualbereich und einige aufsehenerregende Fälle sexuellen Mißbrauches, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, im In- und Ausland“ beauftragt. 224Ministerialentwurf des Bundesministeriums für Justiz 258/ME XX. GG, GZ 318.010/1-II 1/1998. In der Arbeitsgruppe waren Vertreter*innen der Strafwissenschaft und -praxis, der Kinder- und Jugendarbeit, der Psychologie, Psychiatrie und Sexualforschung, der Präsident der Rechtskomitees Lambda, sowie der Bundesministerien für Frauen, Inneres, Justiz und Umwelt, Jugend und Familie vertreten. Auch die Vertreter*innen der Parlamentsparteien wurden zugezogen. Das gemeinsame Ziel der Arbeitsgruppe war es dabei, die „Grundlagen für eine umfassende Erneuerung des Sexualstrafrechts sowie für flankierende Maßnahmen“ zu definieren. Ebd. 9
Im Juli 1997 nahm der internationale Druck bezüglich der anhaltenden strafrechtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen in Österreich durch den § 209 zu: Mit dem Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Fall Sutherland vs. UK wurde festgestellt, dass ein erhöhtes Mindestalter für homosexuelle Beziehungen gegen Art. 8 in Verbindung mit Art. 14 der EMRK widerspreche. 225Vgl. EGMR, Appl. 25186/94. Dieser Fall hatte auch für Österreich direkte Auswirkungen. 226Knapp ein Jahr zuvor wurde von der Kommission eine Beschwerde aus Österreich wegen ähnlichen Sachverhalten zurückgewiesen. Konkret handelte es sich im Fall H.F. vs. Austria aber um ein Autoritätsverhältnis und nicht, wie im Fall Sutherland, um eine Beschwerde eines direkt betroffenen Jugendlichen. Die Plattform gegen § 209 kommentierte dazu: „Wir stehen jetzt vor einer völlig neuen Situation. Österreich riskiert eine Verurteilung, wenn es die Homosexuellengesetze nicht raschest beseitigt.“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 4/96 (1996), 1.
Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1998 wurden im Bereich des Sexualstrafrechts zwar Teilreformen, insbesondere hinsichtlich der Bekämpfung von sexuellem Missbrauch, umgesetzt, Reformen des § 209 aber nicht vorgeschlagen. Das Justizministerium begründete dies damit, dass „einige als besonders dringlich erkannte, in der Arbeitsgruppe bereits erörterte Reformanliegen – der Entwurf versteht sich daher insoweit auch als erstes Zwischenergebnis der Beratungen in der Arbeitsgruppe – schon jetzt umgesetzt werden“ sollten. 227Ministerialentwurf des Bundesministeriums für Justiz 258/ME XX.PG, GZ 318.010/1-II 1/1998, 9. Durch die Reform der Regelungen zum Kindesmissbrauch fielen aber „nicht nur heterosexuelle, sondern auch homosexuelle Mißbrauchshandlungen, die bisher unter § 207 zu subsumieren waren, unter die strengere Strafbestimmung des neugestalteten § 206.“ Ebd., 11. Im Zuge der Abstimmung dazu im Juli 1998 fand ein erneuter Anlauf zur Aufhebung des § 209 durch einen LiF- Antrag keine Mehrheit. 228Antrag 329/A-NR XX. GP. In derselben Plenarsitzung wurde jedoch das Zeugnisentschlagungsrecht nach § 72 StGB auch auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ausgeweitet. 229Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 137. Sitzung XX. GP (17.7.1998). Im Zuge der Abstimmung sorgte ein weiterer Abänderungsantrag des Grünen Klubs betreffend Aufhebung des § 209 für Aufregung, da die Abgeordneten der SPÖ den Saal verließen, um nicht durch Zustimmung die Koalition mit der ÖVP zu brechen. Der Antrag fand keine Mehrheit und eine Aufhebung des letzten Strafrechtsparagraphen konnte damit in der XX. Gesetzgebungsperiode des Nationalrats nicht mehr erreicht werden. 230Ebd.
Nach den Wahlen vom Herbst 1999, langen Koalitionsverhandlungen und der erstmaligen Bildung einer Koalition von FPÖ und ÖVP begann auch die XXI. Gesetzgebungsperiode mit einer Reihe von Anträgen zum Thema Homosexualität und insbesondere zur Aufhebung des § 209. 231Antrag 10/A-NR, XXI. GP (18.11.1999) und Antrag 69/A XXI. GP (26.1.2000). Im Zuge der ersten Nationalratssitzungen der Periode wurden neben diesen Initiativanträgen auch weitere unselbstständige Entschließungsanträge eingebracht. Vgl. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 218. Außerdem wurde im Bereich des Strafrechts die Forderung nach einem Schutz Homosexueller vor Verhetzung thematisiert. SPÖ-Abgeordneter Johannes Jarolim forderte in einem Antrag die Aufnahme des Schutzes vor feindseligen Handlungen „gegen eine durch ihre sexuelle Orientierung bestimmte Gruppe“ in § 283 StGB. Vgl Antrag 325/A-NR, XXI. GP (31.1., 1.2.2001). Der Antrag fand keine Mehrheit. In den ersten Plenardebatten zum Thema wurde jedoch deutlich, dass eine rasche Bereinigung des Strafrechts auch in den neuen Mehrheitsverhältnissen nicht wahrscheinlich war. So argumentierte FPÖ- Abgeordneter Michael Krüger in Richtung Opposition, dass es „ausgerechnet die grüne Fraktion und die sozialdemokratische Fraktion waren, die dafür verantwortlich zeichnen, dass das Schutzalter des § 209 Strafgesetzbuch nach wie vor bei 18 Jahren und nicht bei 16 Jahren liegt“. 232Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 2. Sitzung XXI. GP (18.11.1999). Der Abgeordnete nahm damit Bezug auf Abänderungsanträge der FPÖ bzw. die ÖVP-Vorschläge bezüglich einer Alterstoleranzklausel des Jahres 1996, die eine Reform des § 209 und die Senkung des Schutzalters für gleichgeschlechtliche Handlungen bei männlichen Jugendlichen auf 16 Jahre vorgeschlagen hatten.
Neben den dargestellten Anträgen sahen die Jahre 2000 bis 2002 eine ganze Reihe parlamentarischer Anfragen zur Aufhebung des § 209. 233Vgl. Anfragen 387/J-NR und 735/J-NR, sowie Anfragebeantwortungen 385/AB-NR und 735/AB-NR XXI. GP. Auch persönliche Erfahrungen von Personen, die nach § 209 verfolgt wurden, waren Thema von parlamentarischen Anfragen. Vgl. Anfrage 1381/J-NR XXI. GP. In einer diesbezüglichen Antwort stellte der (parteilose) Justizminister Dieter Böhmdorfer die Linie seines Ressorts wie folgt dar:
„Zur Frage des § 209 StGB erwarte ich mir weitere Aufschlüsse von der parlamentarischen Behandlung der einschlägigen Anträge im Justizausschuss und gehe davon aus, dass eine Lösung gefunden werden kann, die dem Anliegen des Jugendschutzes einerseits, aber auch der Hintanhaltung einer möglichen Diskriminierung und den internationalen Entwicklungen andererseits angemessen Rechnung trägt. Dabei könnte auch auf die Erkenntnisse aus der Arbeitsgruppe zur Reform des Sexualstrafrechts [der Jahre 1996-1999] zurückgegriffen werden.“ 234Anfragebeantwortung 1149/AB-NR XXI. GP.
Geprägt waren diese Jahre auch durch einen zunehmenden internationalen Druck auf Österreich, als einzigem EU-Land mit vergleichbaren Strafgesetzen, betreffend der anhaltenden strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen. 235Konkret wurde Österreich durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates mehrmals zur Aufhebung des § 209 StGB aufgefordert. Vgl. Graupner, XX Auch das Europäische Parlament beschloss 1995, 1996, 1997, 1999 und 2000 (u.a. A4-0468/98, Pkt.53; A5-0050/00, Pkt. 60, A5-0223/01, Pkt. 78) entsprechende Entschließungen, sowie 1998 eine Dringlichkeitsresolution (A5-0050/2000, §§ 76f; A5-0223/01, Pkt. 81) und forderte Österreich auf, Inhaftierte nach § 209 freizulassen (u.a. A5-0050/2000, § 60). Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen und das Komitee für die Rechte der Kinder der Vereinten Nationen thematisierten § 209 in ihren Länderberichten ebenfalls.
In diesem Kontext gestalteten sich die parlamentarischen Initiativen, wie Gössl in seiner Analyse zu diesem Thema ausführt, ab dem Jahr 2001 „auffällig persönlich“. 236Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, 226. Oppositionelle Abgeordnete von SPÖ und Grünen brachten immer häufiger persönliche Schicksale von Betroffenen des § 209 in die Debatte ein. 237Vgl. u.a. Anfragen 2121/J-NR und 2168/J-NR XXI. GP. Für Diskussionen sorgte außerdem, dass in der Kriminalstatistik die bereits abgeschafften §§ 220 und 221 StGB auftauchten. Auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen stellte der Justizminister einen Fehler in der Datenerhebung fest. Vgl. Anfragebeantwortung 3449/AB-NR XXI. GP. Im Frühsommer 2021 sorgten darüber hinaus Fristsetzungsinitiativen zu den Oppositionsanträgen betreffen § 209 für Diskussionen im Plenum des Nationalrats. Diese Initiativen fanden keine parlamentarische Mehrheit.
Aufbauend auf ein Gerichtsverfahren wegen § 209 brachte das Oberlandesgericht Innsbruck 2001 einen Antrag nach Art. 89 in Verbindung mit Art 140 B-VG an den Verfassungsgerichtshof ein, der die Aufhebung des Paragrafen „seinem ganzen Inhalte nach“ wegen Verfassungswidrigkeit – konkret wegen Verstößen gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 7 B-VG, das Eingriffsverbot nach Art. 8 EMRK und das Benachteiligungsverbot nach Art. 14 EMRK – forderte. 238VfGH 29.11.2001, G 190/01 VfSlg 16.374. Bemerkenswert an der Entscheidung des OLG Innsbruck, das Berufungsverfahren zu unterbrechen und Beschwerde beim VfGH einzulegen, ist, dass sich die OLG Wien und Linz in vergleichbaren Fällen gegen eine Anrufung der Verfassungsrichter*innen entschieden hatten. In Innsbruck sahen die Richter*innen dazu aber die Notwendigkeit: „Der Pressesprecher des Landesgerichtes erklärte [...], dass die Mehrheit der Richter dem Gesetz, das sie gezwungen sind zu vollziehen, mit Unverständnis gegenüber stehen und dessen Aufhebung befürworten.“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 2/01 (2001), 2. In seiner Begründung nahm das OLG Innsbruck Bezug auf das VfGH-Urteil des Jahres 1989 239Vgl. VfSlg 12.182/1989 (, in dem das Gericht eine Gleichheitswidrigkeit des § 209 „allerdings noch gestützt auf die Prägungstheorie“ ablehnte:
„Seither sind elf Jahre vergangen, in denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse fortentwickelt wurden und die Prägungstheorie, sohin die Auffassung von Experten, dass eine homosexuelle Einflussnahme männliche Heranreifende in signifikant höherem Grad gefährde als gleichaltrige Mädchen, verworfen wurde.“ 240Ebd. Argumentativ wurde seitens des OLG Innsbruck auch der steigende internationale Druck, beispielsweise durch Entschließungen des Europäischen Parlaments, vorgebracht und auf die geänderte Einstellung der Bevölkerung verwiesen.
In ihrer Stellungnahme argumentierte die Bundesregierung dagegen, dass der Verfassungsgerichtshof in dieser Frage bereits im Urteil VfSlg. 12.182/1989 über die Verfassungskonformität des § 209 StGB entschieden habe und plädierte für die Unzulässigkeit des Antrags. Der VfGH lehnte den Antrag am 20.11.2001 wegen Unzulässigkeit ab und begründete dies damit, dass die vom OLG Innsbruck vorgebrachte Argumentation einer möglichen Gleichheitswidrigkeit – auch unter Verweis auf „geänderte wissenschaftliche Erkenntnisse“ – tatsächlich bereits entschieden wurde und dass es dem Gericht im Zuge des Normenprüfungsverfahrens „verwehrt [ist], das Gesetz unter dem Blickwinkel anderer als der vom antragstellenden Gericht erhobenen Bedenken auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen; aus demselben Grund ist es ihm auch nicht möglich, auf im Antrag nicht enthaltene und insoweit über diesen hinausgehende Bedenken der beteiligten Partei einzugehen“. 241Ebd. Diese Argumentation des Verfassungsgerichtshofes wurde sowohl medial als auch seitens der Zivilgesellschaft als juristisches Ausweichmanöver kritisiert – als einen „faulen Trick“. 242HOSI Wien, Die Fehlentscheidung des Verfassungsgerichtshofs in Sachen § 209 StGB (https://www.hosiwien.at/archiv/die-fehlentscheidung-des-verfassungsgerichtshofs).
Kurz nach diesem Urteil wurde auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aktiv. Im November 2001 erklärte er drei Beschwerden wegen § 209 StGB gegen Österreich für zulässig. 243Vgl. Appl. 39392/98, 39829/98 (G.L. & V.V. vs. Austria), sowie Appl. 45330/99 (S.L. vs. Austria) Schon während der Vorverfahren sorgte eine Stellungnahme Österreichs für Aufsehen, die von einem Beamten des Außenministeriums ohne Beschluss der Regierung eingereicht worden war. Das Rechtskomitee Lambda beschrieb den Vorfall unter dem Titel „Stellungnahme der Bundesregierung ohne Bundesregierung“ wie folgt: „Was den Inhalt der Stellungnahme betrifft, so verweist der Prozessvertreter, abgesehen von der Zitierung der mittlerweile überholten Judikatur der Europäischen Kommission für Menschenrechte vor ihrer Entscheidung im Fall Sutherland (1997), lediglich auf den Umstand, dass im Gegensatz zur früheren englischen Rechtslage in Österreich sich der jugendliche Partner selbst nicht strafbar macht und behauptet, dass die Kriminalisierung des erwachsenen Partners einen ‚sachlich gerechtfertigten‘ Eingriff in die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Gleichbehandlung darstelle.“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 2/2001 (2001), 3. Zu Beginn des Jahres 2002 leitete er außerdem ein Eilverfahren „über zwei Beschwerden von nach § 209 inhaftierten bzw. von Haft bedrohten Männern“ ein. 244Graupner, Homosexualität und Strafrecht in Österreich. Vgl. Wilfling vs. Austria, Appl. 6306/02; H.G. vs. Austria, Appl. 11084/02. Nur ein Monat später brachte das OLG Innsbruck allerdings schon einen neuen Antrag ein und argumentierte angesichts eines anhängigen Berufungsverfahrens ein bisher nicht vorgebrachtes Bedenken zur Verfassungskonformität des § 209:
„§209 StGB verstoße gegen den Gleichheitssatz sowie gegen Art8 iVm Art14 EMRK, weil danach bestimmte homosexuelle Kontakte zwischen Männern strafbar seien, heterosexuelle Kontakte zwischen Personen gleichen Alters hingegen straflos blieben.“ 245VfSlg 16.565/2002.
Während bisher auf die mögliche Gleichheitswidrigkeit einer Unterscheidung zwischen sexuellen Handlungen durch Männer und Frauen hingewiesen wurde, lag die neue Begründung in einer gleichheitswidrigen Unterscheidung zwischen hetero- und homosexuellen Handlungen. Weiters führte das OLG Innsbruck auch Bedenken über mögliche Unverhältnismäßigkeiten der geltenden Regelungen bei Beziehungen zwischen männlichen Jugendlichen aus, die gemäß § 209 zwangsläufig illegal würden, sobald einer der Beteiligten die Strafmündigkeit erreicht:
„Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz sowie gegen Art8 EMRK ergebe sich auch daraus, daß ein bestimmtes Verhalten – eine homosexuelle Beziehung zwischen männlichen Jugendlichen verschiedenen Alters – danach zunächst straffrei bleibe, sodann – sobald einer der beiden Partner das neunzehnte Lebensjahr vollendet habe – strafbar werde, dann aber – mit Erreichen des achtzehnten Lebensjahres des anderen Partners – (wieder) nicht zu bestrafen sei. Diese wechselnde Strafbarkeit im zeitlichen Verlauf sei – so das antragstellende Gericht – unsachlich und unverhältnismäßig.“ 246Ebd.
Die Bundesregierung verwies auf bereits zu früheren Verfahren (G 190/01, VfSlg 16.734) eingebrachte Argumentationen und beantragte die Abweisung des Antrags. Weiters führte sie aus: „Für den Fall der Aufhebung des §209 StGB werde ersucht, der Gerichtshof möge für das Außerkrafttreten eine Frist von achtzehn Monaten setzen.“ 247Ebd. Hinsichtlich früherer Argumentationen der Bundesregierung weist der VfGH aus, dass diese sich primär auf die bisherigen Entscheidungen zum VfGH, insbesondere die letzte Abstimmung dazu im Nationalrat (17.7.1998) und vorangegangene Verhandlungen und Beratungen dazu berufen habe.
Der Aufforderung der HOSI Wien, bis zur erneuten Entscheidung des VfGH durch „Weisungserteilung an die Staatsanwaltschaften zur Herbeiführung eines Anklage- und Verurteilungsmoratoriums in Sachen § 209 StGB“ beizutragen, antwortete der Justizminister am 29. März 2002 ablehnend. Eine entsprechende Weisung würde der „zwingenden Bestimmung des § 87 StOP, wonach Staatsanwaltschaften verpflichtet sind, Offizialdelikte von Amts wegen zu verfolgen, widersprechen und wäre somit rechtswidrig“. 248BMJ, JMZ 1080/74-IV 2/02.
Am 21. Juni 2002 erging schließlich das Urteil des VfGH. Dieses gründete das Gericht auf eine ausführliche Herleitung der geltenden Bestimmungen, verwies dabei auf die Verhandlungen des Justizausschusses 1971 ff., sowie auf das Rechtsumfeld des § 209 durch die Bestimmungen zum sexuellen Missbrauch von Unmündigen nach den §§ 206 und 207 StGB. Vor diesem Hintergrund umfasse der § 209 „ausschließlich einvernehmliche (dh. ohne jede Nötigung und ohne Mißbrauch eines Autoritätsverhältnisses durch die je ältere Person vorgenommene) homosexuelle Betätigungen zwischen Personen männlichen Geschlechtes“. Der VfGH kam daher mit Erkenntnis vom 21. Juni 2002 zur Auffassung:
„Da das Tatbild des §209 StGB auch Sexualkontakte (männlicher) Personen in einer zunächst nicht strafbaren gleichgeschlechtlichen Beziehung erfaßt, ist die Norm aus verfassungsrechtlicher Sicht als in sich unsachlich zu qualifizieren: Der Gesetzgeber geht nämlich davon aus, daß eine Beziehung zwischen männlichen Partnern mit einem Altersunterschied von mehr als einem, aber weniger als fünf Jahren dem von ihm verfolgten Schutzziel gerade nicht in einem solchen Maße abträglich ist, daß dem mit Mitteln des Strafrechts gesteuert werden soll. Dann aber ist es unsachlich, eine solche Beziehung nur wegen des Erreichens einer Altersgrenze von neunzehn Jahren beim älteren Partner bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des jüngeren Partners (also nur während eines bestimmten Zeitraums) mit Strafe zu bedrohen. §209 StGB war somit schon aus dem soeben angeführten Grund als verfassungswidrig aufzuheben.“ 249Ebd.
Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist, dass der VfGH sich bei dieser Änderung seiner ständigen Rechtsprechung weder auf moderne wissenschaftliche Sichtweisen noch auf die EMRK stützte. Kritiker*innen führten dazu aus, dass die ausschließliche Bezugnahme auf das Argument der wechselnden Strafbarkeit homosexueller Beziehungen auch dazu diente, einen Gesichtsverlust der Verfassungsrichter*innen durch eine Widerrufung früherer Entscheidungen zu verhindern. 250Vgl. u.a. Kurt Krickler, § 209: Das Dilemma der Verfassungsrichter (Der Standard.at, https://www.derstandard.at/story/800028/-209-das-dilemma-der-verfassungsrichter) Das Außerkrafttreten des § 209 wurde vom VfGH mit dem 28. Februar 2003 festgelegt.
Vor diesem Hintergrund kam es jedoch bereits in der Nationalratssitzung vom 10. Juli 2002 zur legislativen Aufhebung des § 209 StGB durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2002. 251Das Strafrechtsänderungsgesetz 2002 war ursprünglich unter dem Titel ‚Terrorpaket‘ als Reaktion auf die internationalen Entwicklungen vorbereitet worden. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofes konnte die Abschaffung des § 209 in zweiter Lesung durch einen Abänderungsantrag hinzugefügt werden. Gleichzeitig wurde in § 207b StGB ein neuer Tatbestand bezüglich „Sexueller Missbrauch von Jugendlichen“ eingeführt: „§ 207b. (1) Wer an einer Person, die das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat und aus bestimmten Gründen noch nicht reif genug ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieser mangelnden Reife sowie seiner altersbedingten Überlegenheit eine geschlechtliche Handlung vornimmt, von einer solchen Person an sich vornehmen lässt oder eine solche Person dazu verleitet, eine geschlechtliche Handlung an einem Dritten vorzunehmen oder von einem Dritten an sich vornehmen zu lassen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagsätzen zu bestrafen.“ In (2) des Gesetzes wurde außerdem eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren für die Ausnutzung von Zwangslagen vorgesehen. Im Zuge der Debatte wurden außerdem eine Reihe weiterer Abänderungsanträge eingebracht. Die Bundesregierung ließ damit die, vom VfGH
gesetzte Frist nicht ablaufen, sondern entschied sich proaktiv für eine rasche parlamentarische Bereinigung. Von Zivilgesellschaft und Opposition wurde die damit einhergehende rasche Einführung von Ersatzbestimmungen durch den, mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2002 neu geschaffenen, Tatbestand des § 207 StGB, ohne Debatte im Justizausschuss oder Anhörung von Expert*innen, kritisiert. 252In einem späteren Schreiben des BMJ an die HOSI Wien wurde hinsichtlich des § 207 argumentiert, dass „sich bereits in einer 1997 beim BMJ eingerichteten Arbeitsgruppe zur Reform des Sexualstrafrechts vor allem Praktiker in der Betreuung von Jugendlichen für eine (geschlechtsneutrale) Neugestaltung des strafrechtlichen Schutzes Jugendlicher eingesetzt haben [...]“. Eine solche geschlechtsneutrale Neugestaltung sei, in Abkehr vom aufgehobenen § 209, durch den neu geschaffenen § 207 umgesetzt worden, so die Argumentation. BMJ an HOSI Wien, JMZ 1080/89-IV 4/2002 (24.7.2002). Schon bald nach dem VfGH-Entscheid zeigten Unterlagen des BMJ, dass angesichts der Überlegungen für eine rasche legislative Lösung der Aufhebung des § 209 seitens des Bundesministers eine Empfehlung an die Staatsanwaltschaften besprochen wurde, „mit der Stellung von Verfolgungsanträgen in Fällen des § 209 StGB inne zu halten und in Haftsachen auf eine Enthaftung hinzuwirken“. 253BMJ, 1. Einlageblatt zu JMZ 1080/82-IV 2/02. Am 26. Juni 2002 erging dahingehend ein Schreiben an die OLG Wien, Graz, Linz und Innsbruck:
„Das Bundesministerium für Justiz übersendet in der Anlage das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 21. Juni 2002, G 6/02-11, und empfiehlt, in derzeit anhängigen Verfahren wegen § 209 StGB mit der Stellung von Verfolgungsanträgen innezuhalten, keine Anträge auf Verhängung der Untersuchungshaft, die vorwiegend auf die genannte Strafbestimmung gestützt werden müssten, zu stellen sowie in derartigen Fällen bestehender Untersuchungshaft die Enthaftung zu beantragen. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge dürfte mit einer alsbaldigen Gesetzesänderung zu rechnen sein.“ 254BMJ, 2. Einlageblatt zu JMZ 1080/82-IV 2/02.
In der parlamentarischen Debatte dazu sagte Justizminister Dieter Böhmdorfer:
„Ich bitte zur Kenntnis zu nehmen, dass der § 209 StGB sofort entfällt, obwohl das nicht notwendig gewesen wäre, weil er nach dem Willen des Verfassungsgerichtshofes noch eine Geltungsdauer bis Ende Februar 2003 gehabt hätte. […] Es ist auch keine Ersatzregelung getroffen worden, sondern es ist eine begleitende Maßnahme vorgesehen, die vor allem dem Jugendschutz dient. […] In dieser begleitenden Regelung des § 207b ist vorgesehen, dass Menschen geschützt werden, die bedauerlicherweise eine ‚mangelnde Reife‘ […] aufweisen und missbraucht werden, insbesondere von Menschen, die ihre altersbedingte Überlegenheit ausnutzen.“ 255Stenographisches Protokoll des Nationalrats, 11. Sitzung XXI. GP (10., 11.7.2002).
Am Ende der Debatte wurden beide Abänderungsanträge betreffend der §§ 207b und 209 angenommen und das Strafrechtsänderungsgesetz 2002 in dritter Lesung beschlossen. Damit war der letzte Strafrechtsparagraf, mit dem gleichgeschlechtliche Handlungen in Österreich verfolgt wurden, Geschichte. Am 14. August 2002 trat § 209 StGB damit außer Kraft.
Kapitel 5. Der Anfang der Aufarbeitung – der Weg zu den Tilgungsregelungen (ab 2002)
Dass die Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen mit der ersatzlosen Aufhebung des § 209 gerade erst begonnen hatte, zeigte bereits eine Plenarsitzung des Nationalrats später ein Entschließungsantrag der Grünen-Abgeordneten Terezija Stoisits und Ulrike Lunacek, mit dem „alle rechtskräftigen Verurteilungen allein nach § 209 StGB getilgt und rückwirkend aufgehoben, Untersuchungs- und Strafgefangene, die allein wegen § 209 StGB verurteilt bzw. verfolgt [wurden], sofort aus den Strafanstalten [zu] entlassen“ und rechtskräftige Freiheitsstrafen nicht mehr angetreten werden müssen. 256Antrag 732/A-NR XXI. GP (11.7.2002). Diese Forderung wurde mehrheitlich abgelehnt, zeichnete aber die politischen Diskurslinien der kommenden Jahre vor: Nach dem Strafrechtsänderungsgesetz 2002 nahmen insbesondere Debatten zur Aufhebung und Tilgung der Urteile aufgrund der strafrechtlichen Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen breiten politischen Raum ein. Auch die, in dieser Zeit immer wieder durch die Zivilgesellschaft geforderte, öffentliche Entschuldigung der Republik an die Opfer der Strafrechtsverfolgung, ähnlich zur Erklärung des Deutschen Bundestages 2000, wurde nicht umgesetzt und bleibt bis heute eine offene Forderung. 257Vgl. BT-Drs. 14/4894 (2000).
Erste Analysen hinsichtlich der Forderung nach einer Tilgung der Urteile gegen Personen wegen Verstößen gegen § 209 und die artverwandten Strafbestände wurden seitens des BMJ bereits im Jahr 2002 angestellt. Dahingehend schrieb das BMJ an die HOSI Wien, dass im Sinn einer Aufarbeitung der Strafverfolgung nach § 209 „in erster Linie die Tilgung derartiger Verurteilungen aus dem Strafregister in Betracht kommen“ würde und eine solche Tilgung, aufgrund der häufigen Überschneidungen mit anderen Tatbeständen und der Gefahr „allfälliger tilgungsrechtlicher Nachteile […] einem individuellen Prüfungsverfahren vorbehalten bleiben muss“. 258BMJ an HOSI Wien, JMZ1080/89-IV 4/2002.
Auch wenn es bereits 2002 zu einer ersten Begnadigung durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Justizministers kam, stand eine ganze Reihe von Punkten in der Kritik: 259Die teilweise Begnadigung, nicht in Form einer Tilgung, wurde im medial viel diskutierten „Liebesbrief-Fall“ gewährt. Vgl. BMJ, GZ 98.478/16-IV 4/02; BMJ, BMJ-L624.011/0001-II 3/2005. Die zweitinstanzliche Bestätigung von nicht rechtskräftigen Verurteilungen nach § 209 auch noch nach dessen Aufhebung (u.a. durch das OLG Wien im Dezember 2002) 260Vgl. OLG Wien, 19 Bs 186/02 (3.12.2022); 20 Bs 15, 16/03., die Verweigerung der Milderung bereits verhängter Urteile und die Ablehnung der bedingten Entlassung von Verurteilten, u.a. auch aus Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher 261Vgl. u.a. OLG Wien, 181 BE 84/02z (6.12.2002). Besonders Aufsehen erregend wurden Beschlüsse des OLG Innsbruck auf nachträgliche Strafmilderung vom OGH auf Antrag der Generalprokuratur als rechtswidrig aufgehoben. Vgl. OGH, 13 Os 3/03 (19.2.2003). Sogar noch im Jahr 2006 berief sich das OLG Wien auf Vorstrafen nach dem § 209 und verweigerte mit dieser Begründung eine vorzeitige Entlassung. Vgl. OLG Wien, 20 Bs 155/06z (13.6.2006)., und die Nicht-Löschung von Verurteilungen nach § 209 in polizeilichen Datenbanken. 262Vgl. u.a. Bundespolizeidirektion Graz, GZ P-491/80 – (11) (8.1.2003). Auch die weitere Wirksamkeit von Probezeiten nach bedingten oder teilbedingten Freiheitsstrafen und nach Entlassungen aus Haftanstalten wurde genauso von zivilgesellschaftlicher Seite kritisiert, wie der Verbleib der entsprechenden Verurteilungen im Strafregister. Im Jahr 2005 waren deshalb noch immer 1.434 Personen als Sexualstraftäter wegen Verurteilungen nach den anti-homosexuellen Strafgesetzen vorgemerkt – 476 wegen Verurteilungen nach § 209 und 558 davon noch wegen Verurteilungen nach § 129 Ib. 263Vgl. Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 3/05 (2005), 1.
Bereits direkt nach dem Entscheid des VfGH und dem folgenden Strafrechtsänderungsgesetz 2002 stellte sich jedoch die akute Frage nach dem Umgang mit jenen Personen, die noch in den letzten Monaten seiner Wirksamkeit wegen § 209 verurteilt worden waren – insbesondere bezüglich der Wechselwirkungen mit den Ersatzbestimmungen nach § 207b, der trotz geschlechtsneutraler Formulierung fast ausschließlich Männer traf. 264Einen ersten Fall, in dem diese Frage aktuell wurde, dokumentierte das Rechtskomitee bereits im Herbst 2002. Dabei entschieden sowohl das Landesgericht Korneuburg als auch in zweiter Instanz das Oberlandesgericht Wien gegen den Antrag auf Strafmilderung nach § 31a StGB eines Mannes, der wegen Verstoßes gegen § 209 zu eineinhalb Jahren Haft und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt wurde: „Das Landesgericht Korneuburg hat das [den Antrag auf Strafmilderung] im August abgelehnt. Der Entfall einer Strafbestimmung wäre kein Grund für die nachträgliche Milderung einer Strafe. Außerdem, so meinte das Gericht, wäre die Tat des Mannes auch nach dem neuen § 207b strafbar.“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 3/2002 (2002), 3 f. In einer entsprechenden Aktennotiz des BMJ findet sich hinsichtlich erfolgter Korrespondenz zum Urteil des LG Korneuburg, dass dieses „seine Entscheidung im Wesentlichen damit [begründet], dass eine nachträgliche Änderung des Gesetztes (sic!) kein nachträglich hervorgekommener Milderungsgrund im Sinne des § 410 stopp (§ 31a StGB) sei“ und der Verweis auf § 207b „nicht entscheidungsrelevant“ war. Vgl. BMJ, Einlageblatt zu JMZ 1080/98-IV 2/02 Ein Gnadengesuch wurde deshalb abgelehnt. Vgl. BMJ, JMZ 56.038/1-IV 4/02 Dieser Fall zeigt die Unklarheiten für Betroffene, die nach der Aufhebung des § 209 unter anderem durch die neuen Ersatzbestimmungen in § 207b entstanden. Bereits ein Jahr nach dessen Einführung zeigte eine parlamentarische Anfrage der SPÖ, dass § 207b ausschließlich gegen Männer zum Einsatz kam. Konkret wurden von August bis Ende 2002 neun Fälle nach § 207b neu aufgenommen und mehrere ältere Fälle nach dem neuen Gesetz weitergeführt. Vgl. Anfragebeantwortung 91/AB XXII. GP (4.4.2003). Angesichts dieser Entwicklung entschied der Oberste Gerichtshof im Jahr 2003, dass § 207b auch bei gleichgeschlechtlichen Handlungen unter Männern nicht auf Taten vor dem Tag seines Inkrafttretens am 14.8.2002 angewandt werden dürfe. Vgl. OGH, 11 Os 101/03 (11.11.2003). Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 2004 wurde außerdem eine Verschärfung der Bestimmungen nach § 207b beschlossen. Nach anhaltender Kritik darüber, dass die Bestimmung unverhältnismäßig häufig gegen Männer eingesetzt und quasi als Ersatzbestimmung für § 209 angewandt wurde, forderte das Europäische Parlament Österreich zu einer diskriminierungsfreien Vollziehung auf. Vgl. Entschließung zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union (2002), 4.9.2003, par. 79. Betreffend übermittelter Kritik an den
Bestimmungen des § 207b, die sich auf die Beantwortung der parlamentarischen Anfrage 1696/AB XXII. GP stützten, wurde Plattform gegen § 209 auf eine Anfrage durch das BMJ geantwortet, dass „österreichweit lediglich beim Landesgericht Salzburg ein einziges Verfahren wegen homosexueller Kontakte geführt wurde“ und die „Tatsache, dass möglicherweise unverhältnismäßig mehr Sachverhalte mit homo- oder bisexuellen als heterosexuellen Kontakten an die Staatsanwaltschaften herangetragen werden, […] wohl weniger eine juristische als eine gesellschaftspolitische Frage“ sei. 265BMJ-L165.017/0002-II 1/2004.
Zusätzlich kam es zu neuen Entwicklungen auf europäischer Ebene: Zu Beginn des Jahres 2003 entschied der EGMR in jenen Fällen, die er im Herbst 2001 wegen möglicher Menschenrechtswidrigkeit des § 209 zugelassen hatte. In beiden Fällen, G.L. und V.V. vs. Austria und S.L. vs. Austria, wurde die Republik zu Strafzahlungen verurteilt. 266Vgl. Appl. 39392/98, 39829/98 (Fall G.L. & V.V. vs. Austria), sowie Appl. 45330/99 (S.L. vs. Austria). Den drei Beschwerdeführern, zwei nach § 209 Verurteilten und einem 17- Jährigen, der in seinem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eingeschränkt wurde, wurde Schadenersatz zugesprochen:
„Dabei stellten die Straßburger Richter auch ausdrücklich fest, daß die Aufhebung des § 209 im Vorjahr an dieser Diskriminierung nichts geändert hat, weil Österreich nie anerkannt hat, dass § 209 und die darauf gegründete Verfolgung homo- und bisexueller Männer eine Menschenrechtsverletzung war und die Opfer nicht entschädigt hat. Auch der Verfassungsgerichtshof habe die Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention weder anerkannt noch bereinigt.“ 267Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 1/03 (2003), 1.
Die Bundesregierung verzichtete darauf, gegen die Urteile Beschwerde vor der Großen Kammer des EGMR einzulegen, wodurch diese rechtswirksam wurden und den Beschwerdeführern 57.000 Euro zugestanden wurden.
Auch auf österreichischer Ebene kam es in dieser Zeit zu gerichtlichen Auseinandersetzungen rund um die Aufarbeitung der Strafverfolgung nach § 209. Im November 2003 hob der Oberste Gerichtshof (OGH) erstmals alle Urteile gegen jenen Mann auf, der 1996 aufgrund seiner Kalendereinträge über Sexualkontakte mit 15- bis 18-Jährigen verurteilt worden war – er war einer der drei Beschwerdeführer vor dem EGMR. 268Vgl. OGH 11 Os 101/03. Der Betroffene erreichte bereits kurz davor auch die Vernichtung aller Papierakten über seine Gerichtsverfahren. 269Vgl. P 405/65/r/03 (4.9.2003).
Ebenfalls 2003 wurde durch das Bundesministerium für Inneres nach langem zivilgesellschaftlichem Druck die Löschung aller polizeilichen Daten von Verfolgten nach § 209 angeordnet. 270Dies betraf einerseits die Löschung aller polizeilichen Vormerkungen im EKIS-System (Erlaß der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 10.4.2003, 8181/421-II/BK/1/93) und andererseits die Löschung sämtlicher erkennungsdienstlicher Daten wie Fotos, Fingerabdrücke etc. (Verordnung vom 10.8.2003, BGBl II 361/2003). Es dauerte jedoch bis 2005, bis es zur Vernichtung nicht nur der elektronischen, sondern auch der in Papierform vorliegenden Akten kam. Eine Beschwerdeaktion vor der Datenschutzbehörde führte zunächst zu einer Bestätigung der Rechtsauffassung der Polizei, die eine Löschung ausschloss, doch der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) und der VfGH ordneten schließlich Ende 2005 aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch die Vernichtung der manuell geführten Akten über Betroffene des § 209 an. 271Vgl. VwGH, 2005/06/140 (19.12.2005); VfGH B 1590/03 (15.12.2005).
Die zunehmende Aufarbeitung von Verurteilungen nach § 209 durch die österreichischen Gerichte sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Weg nur für wenig Betroffene gangbar war. Unter dem Titel „Zwei Klassen von Opfern“ beschreibt das Rechtskomitee Lambda:
„Eine derartige Rehabilitierung können aber nur jene Opfer des § 209 erlangen, die sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (dzt. sind dort noch etwas 10 Verfahren anhängig). Alle die das nicht getan haben, bleiben auf Jahre hinweg wegen eines Sexualdeliktes vorbestraft und erhalten keinerlei Wiedergutmachung, weder für den seelischen Schmerz noch für ihre Verteidigungskosten und die (vielfach erfolgte) Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz.“ 272Ebd., 2 f. Zu einer generellen Ausweitung des Grundrechtsschutzes kam es erst durch Beschwerden von § 209 Betroffenen an den OGH im Jahr 2007, wenn auch mit einer skurrilen Entscheidung: Einer der Beschwerdeführer im EGMR-Fall G.B. & H.G. vs. Austria beantragt gegenüber dem BMI die Löschung seiner Verurteilung aus dem Strafregister, ohne die Aufhebung der Verurteilung zu fordern. Vom VfGH wurde die Ablehnung des BMI letztinstanzlich bestätigt und festgestellt, dass es „nicht Sache der Strafregisterbehörde sein [könne], zu entscheiden, ob und in welchem Umfang bestimmte Verurteilungen aus dem Rechtsbestand auszuscheiden sind“ und es Aufgabe der Gerichte sei, zu entscheiden, ob Urteile Grundrechtsverletzungen darstellen. VfGH, B 742/06 (4.10.2006). Gestützt auf die EGMR-Entscheidungen zur Menschenrechtswidrigkeit des § 209 beantragte der Betroffene daraufhin beim OGH die Erneuerung seiner beiden Strafverfahren. Dieser entschied 2007, dass „über den geltenden Gesetzestext hinaus [...] sich Opfer einer Grundrechtsverletzung im Bereich der Strafjustiz immer an den Obersten Gerichtshof wenden und ihr Verfahren erneuern lassen können; auch wenn sie keine Verurteilung Österreichs beim EGMR erwirkt haben, ja sogar dann, wenn es zu einer bestimmten Frage noch gar keine Judikatur des EGMR gibt“. Rechtkomitee Lambda, Ius Amandi 3/07 (2007), 4. Wirksam wurde dieser Rechtsschutz zwar für alle Betroffenen von Grundrechtsverletzungen in Österreich, nur gerade für die Betroffenen von § 209 nicht – denn der OGH schloss Menschenrechtsverletzungen durch Urteile aus, die weiter als sechs Monate zurückliegen. Vgl. OGH, 13 Os 135/06m (1.8.2007).
Wenig später erfolgte im Jahr 2004 eine weitere Verurteilung Österreichs durch den EGMR. Im Fall Woditschka & Wilfling vs. Austria wurden den Beschwerdeführern 61.000 Euro Schadenersatz durch die Republik zugesprochen. 273Vgl. EGMR, Appl. 69756/01, 6306/02 (21.10.2004). Im Februar 2005 wurde Österreich im Fall F.L. vs. Austria – dem Fall eines Mannes, der wegen des § 209 noch in Haft war und dessen Begnadigung trotz des Einsatzes von Amnesty International verweigert wurde – zu 30.500 Euro Schadenersatz verurteilt. 274Vgl. EGMR, Appl. 18297/03 Für Aufsehen hatte auch dieser Fall schon früher gesorgt: Der Richter des Landesgerichts für Strafsachen hatte diesen 2001 durch Diversion erledigen wollen, der Diversionsbeschluss wurde jedoch vom OLG Wien aufgehoben. Seitens des zuständigen Erstrichters wurde daraufhin vom Versuch eines neuerlichen Diversionsbeschlusses abgesehen und eine Haftstrafe verhängt. Schon kurz darauf kam es im Juni 2005 zu einer neuerlichen Verurteilung Österreichs durch den EGMR: Im Fall H.G. & G.B. vs. Austria wurde den Beschwerdeführern eine Rekordentschädigung von 106.532,27 Euro zugesprochen. 275Vgl. EGMR, Appl. 11084/02, 15306/02 (2.6.2005). Eine zehnte Verurteilung Österreichs durch den EGMR folgte im Jänner 2006: Im Fall R.H. vs. Austria wurde die Republik zu 44.000 Euro Schadenersatz verurteilt. 276Vgl. EGMR, Appl. 7336/03 (19.1.2006). Bei dieser Beschwerde handelte es sich um den Fall eines Mannes, der 1998 bei der Einreise im Zuge von Grenzkontrollen verhaftet worden war, weil sich auch ein 17-Jähriger im Auto befand. Obwohl die Festnahme durch den VwGH als rechtswidrig aufgehoben wurde (vgl. VwGH 2000/01/0254, 11.12.2001) wurde der Betroffene zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten und nach Berufung durch den Staatsanwalt vom OLG Wien zu neun Monaten, drei davon unbedingt, verurteilt.
Angesichts dieser Urteile erneuerten vor allem zivilgesellschaftliche Stimmen und die parlamentarische Opposition ihre Forderung nach einer generellen Aufhebung und Tilgung aller Urteile nach § 209 und der Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen. Zunehmend aktiv zeigte sich auch der, 2004 neu gewählte, Bundespräsident Heinz Fischer, der „die Justizministerin [Karin Gastinger] um grosszügigere Handhabung des Gandenrechts ersucht[e]“, woraufhin die Justizministerin die Begnadigung der Betroffenen innerhalb eines Jahres in Aussicht stellte. 277Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 3/05 (2005), 1 f. Konkret wurde Österreich bis 2006 zehn Mal vom EGMR wegen menschenrechtswidrigen Verurteilungen nach dem § 209 zu den nachfolgenden Entschädigungszahlungen verurteilt. Die reinen Entschädigungskosten der Strafen, ohne anteilige Anwaltskosten, belaufen sich wie folgt:
- L. & V. vs. Austria (09.01.2003, Appl. 39392/98, 39829/98): 15.000 Euro pro Beschwerdeführer
- S.L. vs. Austria (09.01.2003, Appl. 45330/99): 5.000 Euro
- Wolfgang Wilfling & Michael Woditschka vs. Austria (21.10.2004, Appl. 69756/01, 6306/02): 15.000 Euro im Fall Woditschka, 20.000 Euro im Fall Wilfling
- F.L. vs. Austria (03.02.2005, Appl. 18297/03): 17.500 Euro
- Thomas Wolfmeyer vs. Austria (26.05.2005, Appl. 5263/03): 10.000 Euro
- H.G.& G.B. vs. Austria (02.06.2005, Appl. 11084/02, 15306/02): 75.000 Euro im Fall H.G., 15.000 Euro im Fall G.B.
- R.H. vs. Austria (19.1.2006, Appl. 7336/03): 44.000 Euro 278Da nicht alle Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer Verfahren mit ihrem vollen Namen in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, werden die unterschiedlichen EGMR-Verfahren hinsichtlich der (Nicht)Anonymisierung der Beschwerdeführer in der vorliegenden Arbeit so benannt, wie sie im zeitgenössischen parlamentarischen Diskurs bezeichnet wurden. Vgl. u.a. Anfragen 3372/J-NR XXV. GP und 2873/J-BR/2012.
Diese Verurteilungen erzeugten zunehmenden Druck auf die österreichische Politik. In einer Stellungnahme zur Höhe der Entschädigungszahlungen im Fall Thomas Wolfmeyer vs. Austria (5263/03) stellte die Republik in Aussicht, dass angesichts der OGH-Entscheidung zur Aufhebung des Strafurteils im Fall G.L. (OGH, 11 Os 101/03, 11.11.2003) „nunmehr die Möglichkeit neuerlich geprüft [werde], ob in sämtlichen der beim EGMR anhängigen Menschenrechtsbeschwerdefällen, die sich auf § 209 StGB beziehen, amtswegige Gnadenmaßnahmen ergriffen werden können“. 279Stellungnahme der Republik Österreich zur Menschenrechtsbeschwerde Thomas Wolfmeyer gegen Österreich (BNr. 5263/03), in: BJ, Zl. 2.1540/6-IV 1/04. Zurückgehen dürfte diese Ankündigung jedoch bereits auf eine Analyse im Fall R.H. vs. Austria (7336/03) aus dem Jahr 2003. Hier wurde angesichts der Reihe von Verurteilungen Österreichs angemerkt, dass die Abteilung IV 1 des BMJ einen Vorschlag des Verfassungsdienstes, „in den noch anhängigen MRB-Fällen [Menschenrechtsbeschwerde] wegen § 209 StGB gegenüber dem EGMR Vergleichsbereitschaft zu signalisieren, aufgegriffen“ habe und das Gericht um Vergleichsvorschläge zu ersuchen. Daher müsse „nunmehr eigentlich in all jenen MRB-Sachen wegen § 209 StGB (alt), die noch nicht entschieden sind, seitens der österreichischen Prozessvertretung gesondert eine entsprechende Äußerung erfolgen“. 2802. Einlaqeblatt zu JMZ 2.1521/2-IV 1/02, in: BMJ, 2.1521/2-IV 1/03. Die Ernsthaftigkeit der Situation scheint dem BMJ im Fall R.H. vs. Austria auch mit Hinblick auf den konkreten Sachverhalt bewusst gewesen zu sein: „Angesichts der o.a. Vorgeschichte erscheint es jedenfalls nicht vertretbar, noch einmal die (bereits aufgehobene) Bestimmung des § 209 StGB zu verteidigen. Dies würde die österreichische Prozessvertretung jeder Glaubwürdigkeit gegenüber dem EGMR berauben.“ Auch wird festgehalten, dass Überlegungen zu einer Argumentation hinsichtlich der Nachfolgebestimmungen des § 207 denkbar wären, doch dem das Argument entgegenstehe, „dass diese Gesetzesbestimmung zu den Tatzeitpunkten (im vorliegenden Fall zwischen 1995 und November 1998) noch gar nicht in Geltung stand und es schon aus diesem Grund fraglich ist, ob der EGMR einer solchen Argumentation seitens der österreichischen Prozessvertretung folgen würde (Rückwirkungsverbot).“ Ebd. Dass diese Bemühungen um Vergleichsvereinbarungen jedoch durch die Beschwerdeführer nicht angenommen wurden zeigt ein BMJ-Vermerk, in dem rund ein Jahr später notiert wurde, dass derartige Vorschläge in Form eines „friendly settlement durch die verbindliche Erklärung […] den Beschwerdeführern die gnadenweise Tilgung ihrer einschlägigen Verurteilungen zu erwirken […] bereits vor längerer Zeit an der Haltung der Beschwerdeführer gescheitert“ sei. 281BMJ-D-1080/11-IV 4/04. Der Einschätzung der Abteilung IV4 nach, begründete sich die Ablehnung der Beschwerdeführer einerseits dadurch, dass sie gemäß der OGH-Entscheidungen „im Fall einer Verurteilung der Republik durch den EuGHfMR mit einem Freispruch im innerstaatlichen Verfahren und damit mit einer rechtlichen Rehabilitation zu rechnen haben“, andererseits dadurch, „dass die Beschwerdeführer an einen Freispruch im innerstaatlichen Verfahren höhere finanzielle Erwartungen knüpfen als an die Vergleichsgespräche im Verfahren nach der MRK“. Ebd.
Das Protokoll einer interministeriellen Besprechung unter Beiziehung des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramts und anderer Stellen vom 16. April 2004 zeigt, dass das Ziel einer gnadenweisen Tilgung zur Verhinderung weiterer Verurteilungen Österreichs dennoch weiterverfolgt wurde. 282Vgl. BMJ-F2.1540/0001-IV 1/2004. Wenig später informierte das BMJ das zuständige Außenministerium, dass „seiner Ansicht nach dem EGMR eine vergleichsweise Bereinigung der Beschwerdefälle […] vorgeschlagen werden sollte“, wodurch „sofort alle Rechtswirkungen und sämtliche Urteilsfolgen“ beseitigt würden. 283BMJ an Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, Völkerrechtsbüro, in: BMJ- F2.1540/0001-IV 1/2004 (19.4.2004). Ein entsprechender Vorschlag wurde daher kurz darauf einem Bericht an die Präsidentschaftskanzlei angeschlossen. Bezugnehmend auf die bisher verfolgte „differenzierende Vorgehensweise“ hinsichtlich der Gnadengesuche der Beschwerdeführer vor dem EGMR berichtete das BMJ:
„Auszugehen ist nämlich davon, dass in allen sechs hier zur Diskussion gestellten Fällen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung der Republik Österreich im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Grundfreiheiten ergehen wird. Die damit verbundene Beeinträchtigung des Ansehens des Staates wird für so schwer erachtet, dass es günstiger erscheint, den drei oben zuletzt genannten Rechtsbrechern [gemeint sind die Beschwerdeführer H.G., F.L., R.H.] Gnaden zu gewähren, als Ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich trotz der nach wie vor gegebenen Strafwürdigkeit ihres verwerflichen Verhaltens der Öffentlichkeit als Opfer einer Menschenrechtsverletzung zu präsentieren.“ 284BMJ an Österreichische Präsidentschaftskanzlei (20.4.2004), in: BMJ, GZ 1080/138-IV 4/04.
Dass derartige Angebote abgelehnt wurden, begründete sich laut Aktenvermerken des BMJ darauf, dass „das primäre Interesse der Beschwerdeführer […] eine Änderung der Bestimmungen dess [sic!] § 363a StPO“ wäre und der „Antrag auf Verfahrenserneuerung […] eine Art von actio popularis werden“ solle. 285Einsichtsbemerkung der Abteilung IV4, zu: BMJ, JMZ 2.1540/0001-IV 1/04. Es gehe den Beschwerdeführern darum, dass jeder betroffene Verurteilte „antragslegitimiert sein [solle] und lediglich dartun müsse […], dass in seiner Sache eine vom EGMR in einer anderen Angelegenheit festgestellte Menschenrechtsverletzung ebenfalls aufgetreten sei“. 286Ebd. Dahingehend sei es durchaus möglich, so die Analyse der zuständigen Sektion, dem Nationalrat eine gesetzliche Lösung zur Bereinigung des Problems zuzuleiten.
Tatsächlich dauerte die Tilgungsinitiative, die vom neu gewählten Bundespräsident Fischer angestoßen wurde, jedoch mehr als ein Jahr. Zur Genese dieser Initiative gibt ein Aktenvermerk des BMJ Auskunft darüber, dass am 26. September 2005 zwischen dem Bundespräsidenten und der Justizministerin das Übereinkommen erzielt wurde, „dass alle Verurteilten, die im Strafregister mit zumindest einer Verurteilung nach § 209 StGB, den Vorläufern dieser Bestimmung oder nach verwandten Vorschriften verzeichnet sind, amtswegig geprüft werden“ und Verurteilten solange, „sie, die durch das der betreffenden Verurteilung zu Grunde liegende Verhalten nicht in schutzwürdige Rechte Dritter eingegriffen haben, […] amtswegig die gnadenweise Tilgung des Urteils gewährt werden“ soll. 287BMJ-D-1080/23-IV 4/05. Aufgrund der erwarteten hohen Zahl von Prüfungen würde dies, so das BMJ, die Kapazitäten der zuständigen Abteilung IV4 überschreiten, weshalb „die erforderlichen Tätigkeiten so weit möglich im Wege eines Werkvertrages einem geeigneten Universitätsinstitut übertragen werden sollen“. Bemerkenswert scheint, dass das BMJ im Zuge einer Prüfung der Datenbestände im Oktober 2005 darauf aufmerksam wurde, „dass die verfügbaren Suchprogramme zwischen den lit a und b des § 129 I StG nicht zu unterscheiden vermögen“ und auch verstorbene Personen nicht ausgeschieden werden konnten. Aus diesem Grund sollten die Zahlen einschlägiger Verurteilungen, „die zur politischen Diskussion der gegenständlichen Frage erheblich beigetragen haben“ als Näherungswerte herangezogen werden. Ebd. Hinsichtlich des Vorgehens wurden die Herausforderungen durch fehlende bzw. unvollständige Daten ins Rennen geführt:
„Ein nicht unerheblicher Teil der Datensätze dürfte nur noch wegen unterlassener Verständigungen bzw Entscheidungen iS der §§ 43 Abs 2, 48 Abs 3 StGB oder wegen Unterlassung der Tilgung gem § 7 TilgG im Strafregister dokumentiert sein. Weiters wäre der Datenbestand nach §§ 59 f StGB und in Betracht kommenden Amnestien zu prüfen (nach Stichproben stammen einige als unvollstreckt dokumentierte Verurteilungen noch aus den 50er Jahren). Letztlich wäre die statistische Analyse des nicht durch die voran gegangenen Arbeitsgänge der Tilgung zugeführten Datenbestandes so vorzunehmen, dass Urteile, die ausschließlich wegen einer der interessierenden Gesetzesstellen erfolgt sind, gesondert festgestellt und dem Personaldatensatz der Verurteilten zugeordnet werden können.“ 288Ebd. Eine entsprechende Bitte um Beschaffung der benötigten Strafregisterauskünfte wurde am 13.10.2005 an das Strafregisteramt der Bundespolizeidirektion Wien versandt.
Dahingehend stellte sich das praktische Problem, dass Urteile wegen bereits erfolgter (automatischer) Tilgung nach § 3 TilgG nicht mehr nachweisbar waren. Auf eine Anfrage des Deutschen Bundestages gab das BMJ daher 2010 folgende Auskunft:
„Bei 2005/06 durchgeführten Ermittlungen war der oft als Regel dargestellte Fall gewaltfreier Liebe zwischen Männern im Strafregister bei nur einmal Verurteilten nicht (mehr) feststellbar. Dies könnte damit erklärt werden, dass einschlägige Verurteilungen wegen geringer Strafhöhe zur Zeit der Datenerfassung bereits getilgt waren (§ 3 TilgG sieht für ein Mal Verurteilte 5 Jahre Tilgungsfrist vor, wenn die Strafe 1 Jahr nicht übersteigt; diese Grenze nicht überschreitende Urteile waren also nur eruierbar, wenn die Tilgungsfrist nach dem Oktober 2000 begonnen hatte).“ 289Einsichtsbemerkung der Abteilung IV 4 zu BMJ-Pr 235/1 – Pr 1/2010.
Neben der Frage der individuellen Prüfung der jeweiligen Verurteilungen beschäftigten das BMJ angesichts der Vereinbarung zwischen dem Bundespräsidenten und der Justizministerin auch andere rechtspolitische Fragestellungen. In einer entsprechenden Aktennotiz wird deshalb darauf hingewiesen, dass zwar alle „Verurteilungen gemäß § 209 StGB bis zu dessen Aufhebung rechtmäßig erfolgt seien und daher auch ihre Aufnahme in das Strafregister zulässig war“ – dennoch könne „eine (maßvolle) Änderung der Haltung des BMJ zur Frage einer Löschung aus dem Strafregister […] zu einer Entlastung der Abt. IV 4 führen und politischen Druck wegnehmen“. 290BMJ, Referat zu BMJ-L693.007/0001-II 3/2005. Hingewiesen wurde dabei insbesondere darauf, dass durch den Wegfall der Möglichkeit den § 209 als Vergleichsnorm für künftige Rechtsfragen in Betracht zu ziehen (gem. OGH, 11 Os 101/03), weshalb eine „verfassungskonforme Interpretation des § 8 StRegG (Strafregistergesetz, Anm.) überlegt werden“ könnte.
Eine entsprechende Studie zur Auswertung der vorhandenen Daten als Basis für die Tilgung auf dem Gnadenweg wurde bei einem Professor der Universität Wien, der während der Arbeiten an die Wirtschaftsuniversität Wien wechselte, in Auftrag gegeben und 2006 durchgeführt. Ihre Ergebnisse lagen dem BMJ unter dem Titel „Wissenschaftliche und statistische Grundlagen für die gnadenweise Tilgung von gemäss § 209 StGB erfolgten Verurteilungen“ als Grundlage für die Gnadenakte vor. 291Vgl. u.a. BMJ-D 1080/2-IV 4/07.
Am 8. Jänner 2007, kurz vor der Angelobung einer neuen Bundesregierung, wurde von Justizministerin Gastinger gemeinsam mit dem Rechtskomitee Lambda eine Einigung präsentiert, mittels der die Strafregistereinträge des Großteils jener Personen, die nur oder fast ausschließlich nach den Strafbestimmungen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen verurteilt worden waren, durch den Gnadenweg gelöscht werden sollten. 292Das Rechtskomitee Lambda kommentierte diese Einigung u.a. so: „In einigen Fällen von ausschliesslich auf Grund § 209 StGB verurteilten Personen konnten das Justizministerium und das RKL keine Übereinstimmung erzielen. (...) Die noch erforderliche Aufhebung der Urteile und die Entschädigung der Opfer der anti-homosexuellen Strafverfolgung liegt ausserhalb der Kompetenz des Justizministeriums und obliegt dem Parlament.“ Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi, 1/2007 (2007), 4. Ab 2007 brachten Ulrike Lunacek und andere Abgeordnete der Grünen mehrmals ein weiter gehendes Bundesgesetz ein, das bereits 2005 von der Abg. Stoisits vorgeschlagen worden war und mit dem die Opfer der anti- homosexuellen Sonderstrafgesetze amnestiert, rehabilitiert und entschädigt werden sollten (Amnestie-, Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz AREG) in den Nationalrat, das jedoch keine Mehrheiten fand. 293Vgl. Antrag 707/A XXII. GP (28.9.2005), Antrag 151/A XXIII. GP (2.3.2007) und Antrag 83/A XXV. GP (17.12.2013). In der internen Beurteilung zum eingebrachten Antrag 2013 stellte das BMJ fest, dass „sowohl der VfGH als auch der EGMR die strafrechtliche Gleichstellung homosexueller Beziehungen mit heterosexuellen Verhältnissen als ein Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen an, so dass frühere und lange zurückliegende Verurteilungen im Hinblick auf die damaligen gesellschaftlichen Auffassungen als konventionsgemäß und verfassungsgemäß zu betrachten sind.“ Die Abteilung IV 3 warnte dahingehend vor negativen Auswirkungen für Betroffene durch Tilgungen durch Wechselwirkungen mit Vorurteilungen und eine dadurch möglicherweise stattfindende Verlängerung anderer Tilgungsfristen. Sie stellte fest, dass „einer pauschalen Lösung einer Überprüfung im Einzelfall vorzuziehen und [...] dies bereits jetzt auf Grund eines individuellen Gnadenaktes möglich bzw. auf Grund des Vorschlages der FBM Maga. Gastinger bereits erfolgt“ sei. Generell stelle sich dahingehend das Problem, dass es sich bei relevanten Fällen „in erster Linie um Rechtsbrecher handeln musste, die eine größere Zahl von strafgerichtlichen Verurteilungen aufzuweisen hatten“, da diese eine “zwangsläufige Folge des Umstandes [sei], dass es sich dabei um Verurteilungen schon vor mehr oder weniger langer Zeit aufgehobener Gesetzesstellen handelt“ und derartige Verurteilungen nur dann noch im Strafregister aufscheinen würden, wenn ihre automatische Tilgung gemäß TilgG durch andere Verurteilungen verhindert wurde. Vgl. BMJ- S692.006/0001-IV 3/2014.
Ein Teil jener Verurteilten nach § 209, denen der Gnadenweg in Österreich aufgrund der Einschätzung des BMJ verwehrt geblieben war, beschritt daraufhin den Klagsweg und brachte die jeweiligen Fälle schließlich vor den EGMR. Konkret betraf dies laut Auskunft des BMJ Personen, deren „Schuldspruch neben gewaltfreier Homosexualität Straftaten betraf, die zur Blut- und Hochkriminalität zählen (zB heterosexuelle Gewalt- und vorsätzliche Tötungsdelikte, Raub, Verstöße gegen das NS-Verbotsgesetz)“ und auch jene Verurteilten, „die nach ihren sonstigen Verurteilungen als pathologische Sexualtäter anzusehen waren“. 294Vgl. Einsichtsbemerkung der Abteilung IV 4 zu BMJ-Pr 23571 – Pr 1/2010. Bis 2009 wurde die Zahl der Personen, bei denen eine entsprechende Verurteilung im Strafregister nachgewiesen wurde, von 673 im Jahr 2005 auf 207 im Oktober 2009 reduziert. Eine Aufschlüsselung des Ressorts zu Verurteilten nach § 209 StGB wies 2009 folgende Zahlen aus:
- November 2005: Laut Strafregister wurden 989 Personen mit Verurteilungen nach §§ 129, 209, 210, 220 und 221 StGB ausgewiesen.
- Bis November 2006 wurde „die rechtswidrige Dokumentation von 376 Personen gelöscht“ und in 673 Fällen die Prüfung der Verurteilungen nach „auch nach Aufhebung des § 209 StGB strafbarer Handlungen“ veranlasst.
- Mit Stand 1. Oktober 2009 wies das Strafregister noch 45 nach § 129 Ib bzw. § 129 I StG, 142 nach § 209 StGB und 20 wegen § 210 StGB Verurteilte aus.
- Keine Gnadenakte wurden bei 53 einmal-verurteilten Personen erwirkt, weil die Tat auch 2006 strafbar gewesen wäre „und/oder das Urteil auch andere Delikte betraf, die gnadenweise Tilgung nicht verantworten ließen“. In 148 Fällen wurden mehrfach-verurteilte Personen bis 2009 nicht begnadigt. 295BMJ-D-1080/2-IV 4/09. Angemerkt wurde dazu: “Die Gesamtzahl der zu Recht im Strafregister dokumentierten lebenden Verurteilten ist wahrscheinlich geringer. Kapazität zu entsprechenden Ermittlungen fehlt.“
In mehreren Urteilen 2009 forderte der EGMR die Republik Österreich auf, einerseits die andauernde Vormerkung vergangener Verurteilungen als Vorstrafen 296Vgl. A.V. vs. Austria, Appl. 48779/07; A.S. vs. Austria, Appl. 48777/07; E.B. vs. Austria, Appl. 31913/07; H.G. vs. Austria II, Appl. 38357/07; H.G. vs. Austria III, Appl. 48098/07. und andererseits die Einbeziehung solcher Verurteilungen als Erschwernisgründe in Strafverfahren 297Vgl. E.B. vs. Austria III, Appl. 27783/09 zu rechtfertigen. Im Jahr 2013 entschied der EGMR schließlich zugunsten der Beschwerdeführer und verurteilte Österreich einstimmig, „weil die Gleichsetzung von homophoben Verurteilungen mit Verurteilungen wegen wirklichen, menschenrechtskonformen Straftaten diskriminierend ist“. 298Rechtskomitee Lambda, Ius Amandi 4/13 (2013), 2f. Vgl. E.B. vs. Austria, judg. 07.11.13, 31913/07 ua. Diese Verurteilung blieb aber wirkungslos, da der OGH nach neuerlicher Beantragung der Aufhebung der entsprechenden Verurteilungen 2014 urteilte, dass die relevanten Strafregistereinträge als zwingende Folge einer gesetzeskonformen Verurteilung zu betrachten seien. 299Vgl. OGH, 14 Os 47/14i (11.9.2014). Auch der VfGH beschied dahingehend, dass die Strafregistereintragungen erst durch Aufhebung der zugrundeliegenden Verurteilungen durch den OGH beseitigt werden können. 300Vgl. VfGH, B 742/06 (4.10.2006). Im Jahr 2014 waren vor diesem Hintergrund immer noch 211 Verurteilungen nach den Strafgesetzen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen im Strafregister vorhanden – 51 davon noch wegen Verurteilungen nach § 129 Ib. 301Vgl. Parlamentarische Anfragebeantwortung 2789/AB-BR/2014 (25.7.2014).
Zu erwähnen ist in diesem zeitlichen Kontext der Beschluss des Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetzes vom 17. November 2009, das am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. 302Vgl. BGBl. I Nr. 110/2009. Auch wenn sich dieses nicht mit der Aufarbeitung des staatlichen Unrechts gegen LGBTIQ-Personen in der Zweiten Republik beschäftigte, änderte es dennoch die rechtlichen Grundlagen für die Aufhebung von gerichtlichen Entscheidungen, die Ausdruck typisch nationalsozialistischen Unrechts waren, und zur Rehabilitierung aller Opfer derartiger Unrechtsentscheidungen, indem in § 1 Abs. 2 der Katalog der von den Aufhebungen umfassten Entscheidungen zwischen dem 12. März 1938 und dem 8. Mai 1945 um „durch Erbgesundheitsgerichte erfolgten Anordnungen von Zwangssterilisationen oder zwangsweisen Schwangerschaftsabbrüchen“ und „alle verurteilenden Entscheidungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen, sofern die der Verurteilung zugrundeliegende Tat nach den geltenden Bestimmungen nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht wäre“ erweitert wurde. 303Ebd.
Zu einer tatsächlichen Bereinigung der Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Zweiten Republik kam es erst im Zuge einer Gesetzesnovelle im Jahr 2015, bei der neben der Reform des Jugendgerichtsgesetzes auch „ein Bundesgesetz zur Tilgung von Verurteilungen nach §§ 129 I, 129 I lit. b, 500 oder 500a Strafgesetz 1945 sowie §§ 209 oder 210 Strafgesetzbuch erlassen“ wurde (JGG-ÄndG 2015). 304Bereits 2014 findet sich in den Akten des BMJ der Verweis, dass die Sektion IV angesichts des EGMR-Urteils klarstelle, „dass an einer gesetzlichen Klarstellung kein Weg vorbei führe“. Gleichzeitig wird in Hinblick auf die Zahl der verbleibenden Fälle angemerkt: „Ob für diese 203 Fälle eine eigene Regelung geschaffen wird, oder ob deren Erledigung durch Zeitablauf zugewartet wird, ist eine politische Entscheidung. Zu bedenken gilt, dass weitere Verurteilungen durch den EGMR damit einhergehen könnten.“ Vgl. BMJ-S692.006/0001-IV 3/2014. Dass es sich dabei um eine Eingliederung der Tilgungsfrage in das Jugendgerichtsgesetz (JGG) handelte, war laut den Unterlagen des BMJ nicht immer geplant. Noch im Februar 2015 zeigte eine interne Stellungnahme zum Gesetzesentwurf, dass „davon auszugehen [sei], dass ein Gesamtpaket zur Bereinigung sämtlicher Gleichstellungsfragen vorgelegt werden wird (Zeithorizont jedenfalls 1. Halbjahr 2015)“. 305BMJ-S692.006/0003-IV 3/2014. In einer vergleichbaren Stellungnahme vom November 2014 wurde konkretisiert, dass „sämtliche (va vom Komitee Lambda) aufgeworfenen Fragen der Gleichbehandlung (Ehe Gleichstellung usw) in einem Gesamtpaket mit dem BMI erledigt werden sollen“. Vgl. Ebd.
In den Erläuterungen zum JGG-ÄndG 2015 wurde u.a. ausgeführt:
„In seiner Entscheidung vom 7. November 2012 in den Beschwerdesachen BNr. 31913/07 u.a. stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Art. 14 iVm Art. 8 und 13 EMRK aus dem Grund fest, dass Verurteilungen nach § 209 StGB aF trotz dessen Aufhebung weiterhin im Strafregister aufscheinen. Mit dem vorliegenden Entwurf soll nun dieser Entscheidung Folge geleistet werden und die Tilgung von Verurteilungen nach §§ 209 oder 210 Strafgesetzbuch (StGB) sowie deren Vorgängerbestimmungen §§ 129 I, 129 I lit. b, 500 oder 500a Strafgesetz 1945 (StG) ermöglicht werden. Die Republik Österreich verurteilt jede Form der Diskriminierung, Anfeindung und Gewalt gegen homo- und bisexuelle Frauen und Männer. Sie bedauert, dass homo- und bisexuelle Frauen und Männer in der Vergangenheit schweren Verfolgungen ausgesetzt waren. Der vorliegende Entwurf des Tilgungsgesetzes trägt diesem Umstand Rechnung.“ 306Erläuterungen zur Regierungsvorlage JGG-ÄndG 2015 (852 der Beilagen XXV. GP), 2.
Laut Akten des BMJ schienen dazu im Jänner 2016 noch folgende einschlägige Verurteilungen im Strafregister auf:
- 52 nach §129 I oder 129 I lit. b StG (nicht §129 I lit. a StG)
- 4 nach § 500 oder 500a StG
- 112 nach § 209 StGB
- 35 nach § 210 StGB 307Vgl. BMJ-S692.006/0001-IV 3/2016.
Seitens der Zivilgesellschaft wurde dieses Gesetz vielseitig kritisiert. Insbesondere dass keine Entschädigung der Betroffenen vorgesehen war und die Urteile getilgt aber nicht aufgehoben wurden, sorgte für Empörung. Das Rechtskomitee Lambda kritisierte in einer Stellungnahme zur Regierungsvorlage:
„Keine einzige Verurteilung wird aufgehoben (wie das mit Nazi- und Deserteursurteilen geschehen ist). […] Eine Tilgung beseitigt nicht alle nachteiligen Rechtswirkungen und sämtliche Urteilsfolgen.“ 3088/SN-148/ME XXV. GP - Stellungnahme zum JGG-ÄndG 2015.
Eine zentrale Befürchtung der Kritiker*innen war, dass eine Tilgung nur die Streichung der Verurteilungen aus dem Strafregister bewirken, aber insbesondere die Gefahr bestehen lassen würde, dass diese Verurteilungen auch nach ihrer Tilgung in spätere Verfahren einfließen können. Auch in Rechtsbereichen außerhalb des Strafrechts – beispielsweise bei Führerscheinentzug, im Fremdenrecht, bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft oder der Erteilung einer Gewerbeberechtigung – könnten Verurteilungen nach der Tilgung noch herangezogen werden. 309Vgl. ebd.Die Bundesarbeiterkammer kritisierte, ähnlich vielen zivilgesellschaftlichen Proponent*innen, dass das Gesetz eine Einzelfall-Prüfung statt einer generellen Amnestie vorsah:
„Es wäre zu begrüßen, eine Regelung zur automatischen Bereinigung der Strafregister umzusetzen. Damit würde auch der Eindruck vermieden, dass der Gesetzgeber in der Frage der Beseitigung der Diskriminierung Homosexueller im Strafrecht nur jenes absolute Minimum umzusetzen bereit ist, das ihm vom Verfassungsgerichtshof bzw. dem EGMR vorgegeben wird.“ 31032/SN-148/ME XXV. GP - Stellungnahme zum JGG-ÄndG 2015.
Die HOSI Wien dagegen unterstützte in einer Stellungnahme „die vorgesehene Einzelfallprüfung auf Antrag sowie die Absicht, nur solche Verurteilungen vorzeitig zu tilgen, denen ein Verhalten zugrunde liegt, das auch heute nicht mehr strafbar ist“ und beurteilte eine „generelle und automatische Tilgung sämtlicher Urteile [als] nicht vertretbar, da nach diesen Bestimmungen auch Tathandlungen bestraft wurden, die heute noch strafbar sind“. 31112/SN-148/ME XXV. GP - Stellungnahme zum JGG-ÄndG 2015.
In der finalen Fassung des Gesetzes wurde schließlich festgelegt, dass Verurteilungen nach den relevanten Paragrafen „auf Antrag durch gerichtlichen Beschluss zu tilgen [sind], insoweit sie Handlungen erfassten, die bei verschiedengeschlechtlicher Begehung nicht strafbar waren“. 312BGBl. I Nr. 154/2015. Explizit festgehalten wurde in § 2: „Ansprüche auf Entschädigung erwachsen aus dieser Herabsetzung [der verhängten Strafen] nicht.“ 313Ebd. Mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, Grünen und NEOS wurde das Gesetz am 9. Dezember 2015 in dritter Lesung vom Nationalrat angenommen und trat mit 29. Dezember 2015 in Kraft. Am 30. Dezember 2015 veröffentlichte das BMJ den entsprechenden Einführungserlass. 314Vgl. BMJ-S617.001/0010-IV 2/2015. Festgelegt wurde darin, dass eine Tilgung durch Antrag des Verurteilten, eines Angehörigen nach § 72 StGB oder der Staatsanwaltschaft zu prüfen ist, wobei die Staatsanwaltschaft jedenfalls eine Tilgung zu beantragen hat, „wenn für den Verurteilten keine tilgungsrechtlichen Nachteile zu erwarten sind“. Über den Antrag zu entscheiden hat der Einzelrichter des für die Verurteilung zuständigen Landesgerichts. 315Ebd.
Bis zur Vorlage des „Bundesgesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung von Personen, die nach den §§ 129 I, 129 I lit. b, 500, 500a, 517 oder 518 des Strafgesetzes 1945 oder den §§ 209, 210, 220 oder 221 des Strafgesetzbuches verurteilt wurden“ im Jahr 2023 kam es zu weniger umfangreichen parlamentarischen oder politischen Debatten zur Aufarbeitung der Strafverfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen. 316Vgl. Art. 7 Budgetbegleitgesetz 2024, BGBl. I Nr. 152/2023. Zu erwähnen sind in diesen Jahren die parlamentarischen Anträge des NEOS-Abgeordneten Yannick Shetty und des SPÖ- Abgeordneten Mario Lindner. 317Vgl. Antrag 2386/A(E) XXVII. GP und Antrag 595/A(E) XXVII. GP. Am 7. Juni 2021 lud Justizministerin Alma Zadić (Grüne) gemeinsam mit dem Präsidenten des Landesgerichts Wien, Friedrich Forsthuber, und dem Historiker Andreas Brunner (QWIEN) zu einer Gedenkveranstaltung und entschuldigte sich dort für die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen nach 1945:
„Ich möchte den heutigen Anlass im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts Wien […] nutzen, um mich als Justizministerin stellvertretend und in aller Form bei jenen homosexuellen Menschen und ihren Angehörigen zu entschuldigen, die in der zweiten Republik strafgerichtlich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Ich möchte mein tief empfundenes Bedauern für das Leid und das Unrecht, das ihnen widerfahren ist ausdrücken. Diese Menschen wurden von den Institutionen, die sie eigentlich hätten schützen sollen, in ihrer Würde, in ihrem Menschsein verletzt.“ 318BMJ, https://www.bmj.gv.at/ministerium/presse/pressmitteilungen-2021/Justizministerin-Zadi%C4%87-entschuldigt-sich-f%C3%BCr-strafrechtliche-Verfolgung-homosexueller-Menschen-in-der-zweiten-Republik.html
In den Folgejahren beschäftigte sich eine Reihe parlamentarischer Anfragen mit der Aufarbeitung der Verfolgung, sowie der Forderung nach einer gesetzlichen Regelung für die Rehabilitierung und die Leistung von Entschädigungszahlungen durch die Republik. In einer entsprechenden Anfragebeantwortung stellte die Justizministerin zum Ausmaß der Abwicklung der Tilgungsfälle fest, dass mit 2019 die Verfahren nach den Bestimmungen zur Tilgung durch das JGG-ÄndG 2015 abgeschlossen seien und von „anfangs 168 Verurteilungen […] nur noch Dokumentationen von acht Verurteilungen, die vier noch lebende Personen erlitten haben“ bestanden. 319Anfragebeantwortung 11635/AB-NR XXVII. GP (22.9.2022). Diese Fälle betreffen die §§ 129 bzw. 129 I lit. b StG und seien noch aufrecht, da die Antragsstellung unterblieb oder „der Antrag zurückgezogen oder durch das Gericht rechtskräftig abgewiesen, weil es sich bei den Tatopfern um Unmündige handelte“. 320Ebd.
Im Zuge des Budgetbegleitgesetzes 2024 wurde schließlich in Art. 7 ein Bundesgesetz für die Rehabilitierung und Entschädigung der von Strafverfolgung wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen Betroffenen ins Parlament eingebracht und in der Nationalratssitzung am 21. November 2023 beschlossen. 321BGBl. I Nr. 152/2023. Darin vorgesehen sind Entschädigungen für:
- „infolge des Urteils erlittene Freiheitsentziehung (§ 4 Abs. 2 Z 1 lit. b),
- ein Strafverfahren, das durch Freispruch endete oder mit Einstellung beendet wurde, sowie für die in diesen Verfahren erlittene Freiheitsentziehung (§ 4 Abs. 2 Z 2) und
- besondere berufliche, wirtschaftliche oder gesundheitliche Nachteile oder sonstige vergleichbare außergewöhnliche negative Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit den in § 1 Abs. 1 genannten einschlägigen Sondergesetzen (§ 4 Abs. 2 Z 3)“. 322Anfragebeantwortung 16402/AB-NR XXVII. GP (19.1.2024).
Betroffene Personen gelten damit auf Basis des entsprechenden Antrags beim zuständigen Landesgericht als völlig rehabilitiert. Pro aufgehobenem Urteil steht ihnen eine Entschädigung von 3.000 Euro zu, pro eingeleitetem und später aufgehobenem Verfahren 500 Euro. Darüber hinaus besteht ein Anspruch auf 1.500 Euro für jedes begonnene, durch eine Verurteilung oder ein Ermittlungsverfahren erlittene Jahr Freiheitsentzug. Wer außerdem durch ein solches Verfahren „besonders benachteiligt war – wirtschaftlich, beruflich, gesundheitlich – erhält außerdem einmalig 1.500 Euro“. 323BMJ (https://www.bmj.gv.at/ministerium/aktuelle-meldungen/Entsch%C3%A4digungszahlungen-und-Rehabilitierungen-f%C3%BCr-strafrechtlich-verfolgte-homosexuelle-Menschen-in-der-Zweiten-Republik.html) Die Ausführungen zum Gesetzestext begründen dieses Vorgehen wie folgt:
„Während der jahrzehntelangen Geltung dieser Sonderstrafbestimmungen wurden tausende Ermittlungsverfahren eingeleitet, die in tausende Verurteilungen mündeten, die aus heutiger Sicht in besonderem Maße grund- und menschenrechtswidrig erscheinen und die davon betroffenen Personen in ihrer Menschenwürde verletzten. Mit dem vorliegenden Entwurf soll diesem Umstand Rechnung getragen werden und sollen – nach der bereits aufgrund des Bundesgesetzes zur Tilgung von Verurteilungen, BGBl. I Nr. 154/2015, erfolgten tilgungsrechtlichen Sanierung – die Aufhebung von Urteilen nach den Sonderstrafbestimmungen, die Ausstellung von Rehabilitierungsbescheinigungen sowie die Leistung von Entschädigungszahlungen durch den Bund ermöglicht werden.“ 324Erläuterungen zum Budgetbegleitgesetz 2024, 2276 der Beilagen XXVII. GP – Regierungsvorlage.
Die entsprechenden Regelungen traten mit 1. Februar 2024 in Kraft und bilden den Abschluss der politischen Aufarbeitung der jahrzehntelangen Verfolgung homosexueller Menschen durch das österreichische Strafrecht. 325Von Seiten der Zivilgesellschaft wurde neben Lob für diese Maßnahme aber das Fehlen notwendiger Begleitmaßnahmen, wie die beitragsfreie Anrechnung der Haftzeiten auf die Pensionszeiten und eine verzinste Rückzahlung erlittener Geldstrafen auch durch Folgeverurteilungen eingefordert, Die Vorsitzende der HOSI Wien, Ann-Sophie Otte, kommentierte dahingehend: „Es muss also unbedingt eine beitragsfreie Anrechnung der Haftzeiten auf die Pension erfolgen. Ebenso müssen die verhängten Geldstrafen entsprechend verzinst zurückgezahlt werden.“ HOSI Wien (https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20231019_OTS0119/hosi-wien-begruesst-geplante-rehabilitierung-und-entschaedigung-der-opfer-homophober-strafverfolgung)
Teil 2: Partnerschafts- und Familienrecht
Kapitel 1: Vor der Jahrtausendwende
Am 7. Juni 1989 beschloss das dänische Parlament das erste Gesetz für registrierte Partnerschaften weltweit. Wenig später veranstalteten Vertreter*innen der HOSI Wien im Zuge der Warmen Wochen am 30. Juni 1989 einen Hochzeitsumzug durch die Wiener Innenstadt, den der HOSI-Aktivist Kurt Krickler als die „Urmutter aller ‚Aktionen Standesamt‘“ 326Kurt Krickler, 30 Jahre HOSI Wien – 22 Jahre Kampf für die „Homo-Ehe“, (18.12.2009), https://www.homopoliticus.at/2009/12/18/30-jahre-hosi-wien-22-jahre-kampf-fuer-die-homo-ehe/ weltweit bezeichnete. Die Frage der rechtlichen Absicherung gleichgeschlechtlicher Paare wurde 1992 durch ähnliche Aktionen in Deutschland und dortigen Klagen vor dem Höchstgericht international zum Thema.
1992 legte der ÖVP-Parlamentsklub mit der Publikation Gleichgeschlechtliche „Ehen“ ein Buch vor, um, so Klubobmann Heinrich Neisser, „Anhaltspunkte für eine sinnvolle, von Gleichmacherei und Ideologie unbelastete Rechtspolitik zu gewinnen“. Unter „Mögliche Reformansätze“ wurde jedoch die Registrierung einer Partnerschaft abgelehnt, da dadurch bei Homosexuellen „die (unberechtigte) Erwartung geweckt würde, dass ihnen durch diese Art der Formalisierung ihrer Lebensgemeinschaft eine mit der Ehe vergleichbare Rechtsposition verschafft würde“. Möglich sei höchstens ein „Partnerschaftsvertrag“, beurkundet von einem Notar, also ein bloß privater Vertrag, zumal eine Gleichstellung eine „undurchdachte Belastung des Budgets“ bedeuten würde. 327Bea Verschraegen, Gleichgeschlechtliche „Ehen“. Medien und Recht (Wien 1994), 209 f. Das Buch wurde in hoher Auflage offenbar breit an ÖVP-PolitikerInnen verteilt und bestimmte über viele Jahre deren Positionierung.
In der Community führte die internationale Entwicklung und deren deklarierte Verweigerung durch die ÖVP zu vermehrter Auseinandersetzung mit Rechtsfragen rund um Ehe und Lebensgemeinschaft und mit (ausländischen) Modellen. Unter dem Titel Trautes Heim – Glück allein? wurde in Graz in der Zeitschrift der Rosalila PantherInnen im Frühjahr 1992 eine Serie gestartet, die sich als Beitrag „Zur Ehediskussion“ verstand. Denn im Gegensatz zu Skandinavien und zu Deutschland fand in Österreich eine nennenswerte Diskussion Pro und Kontra zur Ehe noch nicht statt. Festgestellt wurde, dass es nicht reiche, im Gesetz die Formulierung „Im Ehevertrag erklären zwei Personen verschiedenen Geschlechts gesetzmäßig ihren Willen …“ zu ändern. Für die Anerkennung „homophiler Ehen“ bedürfe es radikaler Reformen des gesamten Ehe- und Familienrechtes. Auch sei zu hinterfragen, wie zeitgemäß das Eherecht sei und wie es modifiziert werden könnte, damit „auch homophile Paare in den Genuss der positiven Auswirkungen (Erbrecht, Sozialversicherung, Hinterbliebenenversorgungsgenuß, gemeinsamer Wohnungserwerb bzw. Eintrittsrechte etc.) kommen können.“ 328Brigitte M. Scherbler, „Trautes Heim - Glück allein?“, in: Rosa-Lila Buschtrommel 2/1992, 4-7, hier 7. Teil des Heftschwerpunktes war ein Bericht zur „Aktion Standesamt“ in Deutschland am 19. August 1992. Aus der Lesbengruppe lieferte Iva einen Diskussionsbeitrag: „Warum muß es gerade die heterosexuelle, traditionell patriarchale Lebensform der Ehe sein? Sollten nicht gerade Lesben und Schwule durch ihre Art des Lebens und Liebens ein Zeichen setzen, das sich dieser Institution widersetzt und auf diese Art der gesetzlichen, gesellschaftlichen und unter Umstände christlichen ‚Anerkennung‘ und ‚Gleichstellung‘ verrichten? […] Am besten wäre aus meiner Sicht eine gesetzliche Sonderregelung für lesbische und schwule Lebensgemeinschaften.“ 329Iva, Gleichgeschlechtliche Ehe?, in: Rosa-Lila Buschtrommel 2/1992, 9-10, hier 10.
Auch die HOSI Wien beschäftigten sich intensiv mit Fragen der „Lesben- und Schwulen-Ehe“. In zwei Ausgaben der Vereinszeitschrift LAMBDA-Nachrichten (LN) Ende 1992 und Anfang 1993 wurden insgesamt 44 Seiten zu diesem Thema veröffentlicht. In der Nummer 4/92 kamen auch befragte Politiker*innen und Prominente zu Wort, u. a. Bundespräsident Thomas Klestil, ÖVP-Familienministerin Ruth Feldgrill-Zankl, die ÖVP-Abgeordneten Ingrid Korosec und Michael Graff, SPÖ- Staatssekretärin Brigitte Ederer, die Stellvertreterin des FPÖ-Bundesparteiobmanns Heide Schmidt, die grüne Abgeordnete Madeleine Petrovic, der Wiener Grünen- Klubobmann Peter Pilz sowie die Sexualwissenschaftler*innen Ernest Borneman, Rotraud Perner, Gerti Senger und Künstler*innen und Chris Lohner, Stefanie Werger, Alfons Haider oder Mercedes Echerer. 330Redaktion, Prominente zur „Lesben- und Schwulen-Ehe“, in Lambda Nachrichten 14, Heft 4 (1992), 48-51. Zusätzliche Öffentlichkeit erreichte die Diskussion durch einen auszugsweisen Vorabdruck im Nachrichtenmagazin Profil. 331Vgl. Profil 41 (5.10.1992)
Es bestand auch eindeutig Diskussionsbedarf, die AIDS-Krise hatte die Absicherung von Partner*innenschaften zu einem zentralen, wenn nicht zu sagen virulenten, Thema der Bewegung und weit darüber hinaus gemacht. „Noch nie in der 14jährigen Geschichte der HOSI Wien […] hat eine einzelne Aktion […] derartiges Echo ausgelöst und eine politische Lawine losgetreten“ 332Kurt Krickler, Ja zur „Lesben- und Schwulenehe!“, in: Lambda Nachrichten 15, Heft 1 (1993), 39-46, hier 39., jubelte der Aktivist Kurt Krickler vielleicht etwas verfrüht.
Es sollte bis zum 18. März 1997 dauern, dass Vertreter*innen Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien und Rosalila PantherInnen aus Graz von Justizminister Nikolaus Michalek zu einem Gespräch empfangen wurden. Die Aktivist*innen forderten mittelfristig „ein umfassendes, der Ehe ähnliches und gleichwertiges Rechtsinstitut für homosexuelle Paare, wie es bereits in Dänemark, Norwegen, Schweden, Grönland und Island verwirklicht ist“. 333Presseaussendung HOSI Wien, 19.3.1997, https://www.hosiwien.at/homosexuelle- lebensgemeinschaftenhosi-wienjustizministerium/ Kurzfristig sollten (wie in Ungarn 1995 durch den Verfassungsgerichtshof geschehen) zumindest gleich- und verschiedengeschlechtliche Lebensgemeinschaften gleichgestellt werden. Denn mit Verweis auf die AIDS-Krise, die besonders schwule Männer betraf, bestünde „dringender Handlungsbedarf […], etwa im Mietrecht.“ 334Ebd. Die Aktivist*innen kritisierten in diesem Zusammenhang auch eine im Dezember 1996 gefällte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, der ein Eintrittsrecht von gleichgeschlechtlichen Lebenspartner*innen in den Mietvertrag des/der verstorbenen Lebenspartner*in ablehnte. 335Entscheidung des Obersten Gerichtshofs OGH 5 Ob 70/06i, 6 Ob 2325/96x (RS0106011), https://rdb.manz.at/document/ris.jusr.JJR_19961205_OGH0002_0060OB02325_96X0000_002
Die Einschätzung des parteifreien Justizministers in Bezug auf die Forderungen der Community war wenig zuversichtlich. Er habe wenig Hoffnung, dass „derartige Vorhaben in absehbarer Zeit eine realistische Chance auf Verwirklichung hätten“:
„Er sieht die einzig machbare Vorgangsweise in der langsamen schrittweisen Gleichstellung in einzelnen Gesetzen, wobei eben bei den häufigsten und brennendsten Problemen angesetzt werden sollte. Am Ende des mehr als einstündigen Gesprächs sagte Michalek zumindest zu, ministeriumsintern die Anliegen zu besprechen und eventuell entsprechende Initiative zu setzen.“ 336Presseaussendung HOSI Wien, 19.3.1997, https://www.hosiwien.at/homosexuelle- lebensgemeinschaftenhosi-wienjustizministerium/
Kapitel 2: Schwierige politische Rahmenbedingungen
Seine Einschätzung sollte sich bewahrheiten, im Österreich gab es keine parlamentarischen Initiativen, international änderte sich aber die Lage zum Positiven: In Deutschland wurde im Jahr 2000 in Anlehnung an das skandinavische Modell ein Lebenspartnerschaftsgesetz beschlossen, in der Schweiz bereitete die Regierung einen Gesetzesentwurf vor, in Ungarn wurden gleichgeschlechtliche den verschiedengeschlechtlichen nichtehelichen Lebensgemeinschaften gleichgestellt, in Tschechien, Slowenien, Finnland, Portugal, Luxemburg, Belgien, Spanien und Lettland gab es parlamentarische Initiativen. Und in den Niederlanden sollte ab 2001 für gleichgeschlechtliche Paare die Schließung der Zivilehe sowie die gemeinsame Adoption von Kindern möglich sein, beschlossen vom holländischen Parlament mit einer überragenden Mehrheit von 109 zu 33 Stimmen. Im Oktober 2000 einigten sich Vertreter*innen zahlreicher Schwulen- und Lesbeninitiativen – unter anderem HOSI Linz, HOSI Tirol, HOSI Wien, Homosexuelle und Kirchen (HuK), Rosalila PantherInnen (Steiermark) und das Rechtskomitee Lambda – in Graz auf einen Forderungskatalog:
„Zugang für gleichgeschlechtliche Paare zu allen Rechten und Pflichten der Ehe; Gleichstellung verschieden- und gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften ohne Trauschein; Gleichzeitig zügige rechtliche Fortentwicklung von Ehe und Lebensgemeinschaften an den Grundsätzen der persönlichen Selbstbestimmung, der PartnerInnenschaftlichkeit und der Gleichbehandlung.“ 337Presseaussendung HOSI Wien, 17.11.2000), https://www.hosiwien.at/%e2%80%9egleich-viel-recht- fur-gleich-viel-liebe%e2%80%9c-%e2%80%93-osterreichs-lesben-und-schwulenorganisationen- fordern-gemeinsam-rechtliche-absicherung-von-partnerinnenschaften/
Kurz nach der ersten standesamtlichen Eheschließung in den Niederlanden am 1. April 2001 wurde unter dem Motto Gleich viel Recht für gleich viel Liebe dieser Forderungskatalog am 28. Mai 2001 mit ca. 2500 Unterschriften an Nationalratspräsident Heinz Fischer (SPÖ) übergeben und damit von der Community in Form einer Bürger*innen-Initiative überparteilich in den Nationalrat eingebracht. Durch die Eheöffnung in den Niederlanden und durch das „Lebenspartnerschaftsgesetz“ in Deutschland, das am 1. August 2001 in Kraft trat, fand das Thema große mediale Aufmerksamkeit
Die politischen Rahmenbedingungen für die Durchsetzung der Forderungen waren schwierig. Von 2000 bis 2007 gab es in Österreich mit der Regierung Schüssel I bzw. Schüssel II eine ÖVP-FPÖ bzw. eine ÖVP-BZÖ-Koalition, nachdem sich ein Teil der FPÖ als BZÖ abgespalten hatte. Im Sommer 2004 wurde Karin Miklautsch (ab Juli 2005 Karin Gastinger) Justizministerin und blieb bis Jänner 2007 im Amt.
Justizministerin Karin Miklautsch gewährte am 12. August 2004 Vertreter*innen der Community ein je einstündiges Gespräch. Anlässlich einer (getrennten) Vorsprache zum Thema „Gleichgeschlechtliche registrierte Partnerschaften und Ehen“ von Helmut Graupner (Rechtskomitee Lambda) und Kurt Krickler (HOSI Wien) am 12. August 2004 wurde die neue Justizministerin vom zuständigen leitenden Staatsanwalt über die bisherige Positionierung des Ministeriums informiert: „Die Position des Justizressorts geht seit langem in die Richtung, Diskriminierungen möglichst zu vermeiden, jedoch die gesellschaftspolitischen Auffassungen der Österreicher nicht zu überfordern.“ Empfohlen wurde gegenüber der Community folgende Haltung: „Den Forderungen steht Frau BMJ mit Verständnis (und aufgeschlossen) gegenüber. Zur Realisierung der Forderung ist die gesellschaftspolitische Diskussion in Österreich noch im Gang bzw. nicht weit genug fortgeschritten.“ 338BMJ-B4.322-0003-I 1-2004, AV vom 11. 8. 2004.
Helmut Graupner wies die Ministerin darauf hin, dass die Frage nicht bloß eine justizpolitische sei, sondern auch von besonderer gesellschaftspolitischer Relevanz. Daher habe ein Arbeitskreis nur Sinn, wenn vorher klar sei, ob solche Änderungen in der Bundesregierung erwünscht seien. 339BMJ-B4.322-0003-I 1-2004, Bericht über die Vorsprachen von Rechtskomitee Lambda (Dr. Helmut Graupner) und HOSI Wien (Dr. Kurt Krickler) am 12.8.2004.
Ohne den Koalitionspartner zu informieren, bestellte das Ministerium repräsentative Umfragen mit je 1.000 Befragten zur Akzeptanz von Gleichstellungsmaßnahmen. Im September 2005 langten die Ergebnisse der bei Karmasin Marktforschung in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage zum Thema „gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften“ im Bundesministerium für Justiz ein. 340BMJ-B4.322-0008-I 1-2005, AV vom 26. Oktober 2005.
Die Frage „Bitte sagen Sie mir nun zunächst, wie sehr sind Sie persönlich für die Anerkennung, in welcher Form auch immer, von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften?“ beantworteten 37% mit den Schulnoten 1 („voll und ganz dafür“) und 2. Die Note 5 („überhaupt nicht dafür“) vergaben 25%. Die Frage „Sollen Ihrer Meinung nach gleichgeschlechtliche Paare in Österreich eine staatlich registrierte Partnerschaft mit im Wesentlichen gleichen rechtlichen Wirkungen, also denselben Rechten und Pflichten wie bei einer Ehe, eingehen dürfen?“ beantworteten 34% mit 1 oder 2 und 28% mit 5. Es gab, was spätere Untersuchungen bestätigten, in der Bevölkerung längst breite Mehrheiten für Reformen. Das Problem war die Verteilung der Gegner*innen. Bei der allgemeinen Frage 1 waren 31% des ÖVP- bzw. 28% des FPÖ-Anhänger*innen „überhaupt nicht dafür“, beim BZÖ sogar 50%. Bei der staatlich registrierten Partnerschaft waren bei ÖVP-Wähler*innen zu 29% dagegen, bei der FPÖ waren es 32% und beim BZÖ 45%. Überraschend: die Stiefkindadoption, also die Adoption des leiblichen Kindes der Partnerin/des Partners erhielt schon damals von 43% der Befragten die Note 1 oder 2, 30% waren „überhaupt nicht dafür“. 341BMJ-B4.322-0008-I 1-2005, Ergebnisse der ersten Welle.
Gegen Ende der 22. Gesetzesperiode hatte Justizministerin Gastinger in der Öffentlichkeit auch das Projekt einer registrierten Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare vorgestellt und einen Gesetzentwurf mit einer Notariatslösung präsentiert. „Das Projekt stieß innerhalb ihrer Regierungspartei, des BZÖ allerdings nur mehrheitlich auf Ablehnung, ebenso in der Nähe oder bei BK Dr. Schüssel“, wurde im Ministerium notiert. Karin Gastinger, die als Ministerin, im Bereich Homosexualität tatsächlich Reformen wollte, scheiterte an der eigenen Partei: „Diesbezügliche Geschäftsstücke werden als nunmehr überholt erledigt.“ 342BMJ-B4.000-0001-I 1-2008, Einleger vom 4. 8. 2006.
Kapitel 3: Auf dem Weg zur Eingetragenen Partnerschaft
Nach monatelangen Koalitionsverhandlungen wurde im Jänner 2007 die Regierung Gusenbauer angelobt und in dieser SPÖ-ÖVP-Koalition wurde Maria Berger Justizministerin. Schon in der vorhergehenden Gesetzgebungsperiode hatte es Initiativen der SPÖ gegeben. So hatte sie im April 2005 im Parlament einen umfangreichen Initiativantrag für eine „Eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare“ eingebracht. Der von den AbgNR Dr. Josef Cap, Dr. Johannes Jarolim, Gabriele Heinisch-Hosek, Maga Gisela Wurm und GenossInnen eingebrachte Antrag sah vor, dass die „Rechtswirkungen […] – mit Ausnahme der Paaradoption – denen einer Ehe (sowohl im Bundes- wie auch im Landesrecht) gleichkommen“ sollten. 343IA 582/A BlgNR 22. GP; vgl. Katharina Gröger/Hartmut Haller, Eingetragene Partnerschaft-Gesetz EPG. Textausgabe mit Erläuterungen und Anmerkungen. (Manzsche Sonder-Gesetzausgaben) (Wien 2010), 1.
Es gab auch innerhalb der Community unterschiedliche Ansichten darüber, wie weit ein neues Rechtsinstrument für gleichgeschlechtliche Partnerschaften an die Ehe angeglichen werden soll. In diesem Zusammenhang diskutierten die Grünen einen Zivilpakt „Zip“ nach Muster des französischen PACS (Pacte civil de solidarité) für gleich und verschiedengeschlechtliche Paare mit eingeschränkten Pflichten und Rechten. 344Gernot Wartner, Zippen oder Eppen?, in: Pride 82/2004, 12-15. Der Zivilpakt schlug vor „einen neuen rechtlichen Rahmen für das Zusammenleben von Menschen zu schaffen, allerdings sowohl für homosexuelle als auch für heterosexuelle Paare, mit den einer Ehe vergleichbaren Vorteilen, jedoch mit geringeren Auflösungsfolgen. 345IA 712/A BlgNR 22. GP; vgl. Gröger/ Haller, Eingetragene Partnerschaft-Gesetz EPG, 1.
Vor diesem Hintergrund hatten Vertreter*innen der HOSI Wien am 6. März 2007 einen Termin bei Justizministerin Maria Berger. Aus Sicht der HOSI verlief das Gespräch amikal:
„Wir betonten dabei, dass unser Ziel die Einführung der Eingetragenen PartnerInnenschaft ist. In diesem Punkt stimmen wir mit der SPÖ überein, die bereits einen fertigen Gesetzesantrag dazu ausformuliert hat. Das Gespräch verlief sehr freundschaftlich, zumal wir bei Bundesministerin Berger mit unseren Forderungen ohnehin offene Türen einrennen. Es geht jetzt darum, die ÖVP zu überzeugen und eventuell tragfähige Kompromisse zu erreichen. Allerdings haben wir auch klargestellt, dass wir auf einer Eintragung einer EP auf dem Standesamt bestehen und für uns eine Eintragung beim Notar absolut nicht in Frage kommt. Das wäre eine inakzeptable Diskriminierung.“ 346Presseaussendung HOSI Wien, 6.3.2007, https://www.hosiwien.at/justizministerin-maria-berger- empfangt-hosi-wien-vertreterinnen-zu-gesprach/
Die Umsetzung sollte im Zuge eines größeren Familienrechtspakets erfolgen, das Justizministerin Berger bereits im Februar 2007 im Rahmen des Ottensteiner Strafrechtsseminars der Österreichischen Richtervereinigung vorgestellt hatte:
„Einen besonderen Reformbedarf sehe ich im Familienrecht. Die Zahl der Eheschließungen sinkt ja ständig. Rund 0,6 Millionen Menschen in Österreich leben bereits in einer Lebensgemeinschaft. 2005 wurden bereits 36,5 % der Kinder unehelich und die meisten davon in einer Lebensgemeinschaft geboren. Es soll rund 75.000 Patchworkfamilien geben. Diese Fakten muss die Familienrechtspolitik zur Kenntnis nehmen und für die betroffenen Menschen einen passenden rechtlichen Rahmen schaffen. Stiefelternteile sollen die Befugnisse erhalten, die sie brauchen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Dabei sollen die Rechte der leiblichen Eltern unberührt bleiben. Die Rechtsposition von Lebensgefährten gegenüber Dritten soll im Licht der Position verheirateter Personen geprüft werden. Es müssen auch Diskriminierungen von Personen beseitigt werden, die in einer gleichgeschlechtlichen faktischen Lebensgemeinschaft leben. Österreich ist gerade in ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichthof für Menschenrechte wegen der Unmöglichkeit der Ehe oder registrierten Partnerschaft für Gleichgeschlechtliche verwickelt. Legislative Überlegungen über eine rechtliche Absicherung des Zusammenlebens von gleichgeschlechtlich orientierten Menschen sind anzustellen, selbst wenn dies über das Regierungsprogramm hinausgeht“. 347BMJ-B4.000-0002-I 1-2007, Rede der BMmin bei der Richterwoche 2007.
Bei der Richterwoche des Justizministeriums im Mai 2007 gab es auch einen Workshop „Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ mit Impulsreferaten des Anwaltes Helmut Graupner (RKL) zur Spruchpraxis der Höchstgerichte sowie von der Familienrechtsexpertin der Universität Wien, Bea Verschraegen, zur europäischen Rechtsentwicklung. Angesichts dieser Entwicklungen war es aufschlussreich, dass Verschraegen, abweichend von ihrer Positionierung 1992, eine rein privatrechtliche Vertragslösung ablehnte, da dadurch keine statusrechtlichen Wirkungen zu erzielen seien. Bei der Einführung eines neuen Rechtsinstitutes sei auch eine „Regelung für Heterosexuelle“ notwendig. Graupner betonte, dass gleiches Recht ohne Öffnung der Zivilehe nicht möglich sei. 348Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Justiz und Menschenrechte, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Band 134 (Wien/Graz 2008), 100, 96 f.
Gleichzeitig verhandelte innerhalb der ÖVP eine Perspektivengruppe eine Überprüfung der bisherigen Positionen der Partei. Deren Ergebnisse lagen im Oktober 2007 vor. In der Publikation heißt es im Kapitel „Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“:
„Wir schlagen daher ein Partnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare vor, ähnlich dem Modell, wie es auch von der Christlich-demokratischen Volkspartei in der Schweiz umgesetzt wurde. Mit dem Partnerschaftsgesetz soll ein neues Rechtsinstitut geschaffen werden, das der Beziehung von gleichgeschlechtlichen Paaren einen rechtlich gesicherten Rahmen gibt mit einer klaren Abgrenzung zur zivilen Ehe und ohne Adoptionsrecht. Wir sehen diesen Weg als vernünftigen Weg, der zwischen einer rein vertraglichen Lösung auf der einen Seite und der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare auf der anderen Seite liegt. Die eingetragene Partnerschaft unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Ehe. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft ist keine Grundlage für eine Familiengründung, daher wird sie nach dem Vorbild vieler anderer Staaten in einem eigenen Gesetz geregelt. Die Adoption sowie fortpflanzungsmedizinische Verfahren sind ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es nicht nur um die Interessen der Partnerinnen und Partner, sondern vor allem auch um die Interessen Dritter, nämlich von Kindern, geht. Zwei Personen gleichen Geschlechts können ihre Partnerschaft beim Standesamt eintragen lassen. Mit der Eintragung verpflichten sich die Partnerinnen und Partner zur gemeinsamen Lebensführung und zum gegenseitigen Unterhalt. In wichtigen Bereichen wie z. B. dem Erbrecht oder dem Sozialversicherungsrecht haben gleichgeschlechtliche Paare die gleichen Rechte und Pflichten wie Ehepaare. Das Partnerschaftsgesetz in dieser Form beseitigt Diskriminierung, schützt die Ehe und denkt an die Kinder.“ 349perspektiven für österreich – perspektiven für die menschen. die övp denkt vor: http://www.erhoert.at/Politinfos/OEVP_ergebnispapier-Perspektivengruppe.pdf , Seite 14 f.
Am 24. Oktober 2007 tagte zum dritten Mal die vom Frauen- und Justizministerium eingesetzte Arbeitsgruppe „Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“, der auch Vertreter*innen der Community angehörten. 350BMJ-B4.000-043-I 1-2009, Arbeitsgruppe „Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“, PROTOKOLL der 3. Sitzung der AG. Kurz vor der Sitzung präsentierte Justizministerin Maria Berger der Medienöffentlichkeit den Entwurf für ein „Lebenspartnerschaftsgesetz“, wobei nur der Kern des neuen Rechtsinstitutes definiert wurde. Partnerschaften wären beim Standesamt mit wechselseitiger Unterhaltsverpflichtung wie bei der Ehe zu schließen, also mit enormen Pflichten. Aus der Ehe resultierende Rechte wie z. B. Hinterbliebenenversorgung seien noch durch zu bearbeitende Materiengesetze zu klären. 351BMJ-B4.000-0037-I 1-2007, Entwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes (2007). Dieser Schwachpunkt hätte durch vorherigen Kontakt zu Communityvertreter*innen, die allesamt den Entwurf nicht kannten, leicht vermieden werden können, doch die SPÖ-Ministerin hatte offensichtlich im Vorfeld nicht einmal Günter Tolar, den Vorsitzenden der SPÖ-Organisation SoHo, kontaktiert. Verstimmung äußerten auch Vertreter*innen anderer Ministerien. 352BMJ-B4.000-043-I 1-2009, Protokoll der Arbeitsgruppe „Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ vom 24. Oktober 2007.
Am 24. April 2008 wurde das „Lebenspartnerschaftsgesetz“ bis 16. Juni in die Begutachtung geschickt, 86 Stellungnahmen langten ein. Von den „homosexuellen Gruppierungen“ erhielt der Berger-Entwurf negative Stellungnahmen und auch von der der parteiinternen Organisation Sozialdemokratie und Homosexualität (SOHO) wurde Kritik geäußert, da das Gesetz auch diesmal nur den im Bereich des Justizministeriums angesiedelten Bereich des Zivilrechts umfasste. Alle anderen Bereiche, wie Fremdenrecht, Steuerrecht, Erbrecht, Sozialversicherungsrecht, usw. waren dabei nicht umfasst. Seitens der Bewegungsorganisationen wurde der Gesetzesentwurf daher in dieser Form größtenteils abgelehnt. Durch die Auflösung des Parlaments im Zuge der Neuwahlen am 28. September 2008 war der Gesetzesentwurf aber ohnehin hinfällig geworden.
Das Ergebnis der Begutachtung ist dennoch aufschlussreich. Bei den kirchennahen Institutionen war die österreichische Bischofskonferenz, der katholische Familienverband und der Bund evangelikaler Gemeinden strikt gegen eine Umsetzung des Vorhabens. Dagegen haben die Altkatholiken und die evangelische Kirche die Schaffung einer rechtlichen Basis für das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Partnerschaften begrüßt.
Von Ministerien, Ämtern und Behörden konnte zusammengefasst werden, dass das Bundeskanzleramt, das Sozialministerium, die Wiener und die Steiermärkische Landesregierung den Gesetzesentwurf positiv bewertet hatten. Das Innen-, Wirtschafts- und Finanzministerium, sowie das Ministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz und die Vorarlberger Landesregierung lehnten das Lebenspartnerschaftsgesetz ab. Aber nicht alle ÖVP- und BZÖ-dominierten Bereichen schlossen sich der Ablehnung an: Das Landwirtschaftsministerium und das Außenministerium „sind von den sonst akkordierten Stellungnahmen der ÖVP- Ministerien abgewichen und haben etwas positiver gewirkt.“ Neutral hatten sich die Tiroler, Kärntner, Niederösterreichische, Oberösterreichische und Salzburger Landesregierung, sowie das Verteidigungsministerium geäußert. Keine Stellungnahme hat ua. das Wissenschaftsministerium abgegeben. 353BMJ-B4.000-0033-I 1-2008, Zusammenfassung der Stellungnahmen zum Lebenspartnerschaftsgesetzes.
Kapitel 4: Das Eingetragene Partnerschaftsgesetz (EPG)
Mit der Regierung Faymann I kam es zu einer Fortführung der großen Koalition. Justizministerin wurde die parteifreie Richterin Claudia Bandion-Ortner. Das Partnerschaftsgesetz war im Regierungsprogramm verankert und sollte im Detail von einer Arbeitsgruppe aus Justiz-, Innen- und Frauenministerium umgesetzt werden. Vertreter*innen dieser drei Ministerien trafen sich am 9. Mai 2009 zunächst in kleiner Runde, um die weitere Vorgangsweise zu planen. Auf Wunsch der Ministerin sollte bis Jahresende eine Lösung am Tisch sein, damit ein Inkrafttreten am 1. Jänner 2010 garantiert sei. 354BMJ-B4.000-0021-I 1-2009, AV vom 19. August 2009.
Am 19.5.2009 lud das BMJ zu einer Sitzung zur weiteren Vorgehensweise zu einem Gesetz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften (Eingetragene Partnerschaft- Gesetz, EPG) ein. Man kam überein, dort anzuknüpfen, worauf man sich in der Verhandlungsrunde BMin Berger (Justiz) und BMin Fekter (Inneres) im Sommer 2008 geeinigt hatte. 355BMJ-B4.000-011-I 1-2009, Ref. Gröger. Wenige Wochen später, am 9. Juni 2009, lud Ministerin Bandion- Ortner die homosexuellen Interessensvertretungen Österreichs zu einer Besprechung in das BMJ ein. Wichtig war der Community die Einbindung aller Rechtsbereiche in die Reform.
Am 8. September tagten wieder die zuständigen Ministerien: nach den Landtagswahlen im September in Vorarlberg und Oberösterreich solle der Gesetzesentwurf des EPG an alle Ministerien gesendet werden, die dann binnen einem Monat ihren Umsetzungsbedarf zu melden hätten. 356BMJ-B4.000-0023-I 1-2009, Ref. Gröger. Durch die Wahrung der Ressortzuständigkeit erhielt das von Maria Fekter geführte Innenministerium erheblichen Einfluss auf Ort und Art der Partnerschaftsschliessung und auf besonders symbolisch wichtige Folgen.
„Die Auseinandersetzungen um das ‚Ob‘ und das ‚Wie‘ einer rechtlichen Berücksichtigung der Formen eines Zusammenlebens von Gleichgeschlechtlichen wurde allerdings primär politisch diskutiert. Ein sachbezogener rechtlicher Diskurs, in welchem das neue Rechtsinstitut sich in das globale Rechtssystem, insbesondere in das Familienrecht und mit ihm verknüpfte Rechtsbereiche einfügt, hat nicht stattgefunden.“ 357Bea Verschraegen, Die eingetragene Partnerschaft, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ)2, Bd.1, 2012, 89-100, hier 90.
So stellte Bea Verschraegen fest, „dass die Diskussion über Partnerschaft und Homoehe von vornherein als Politikum und weniger als (familien)rechtliches Grundsatzthema angesehen wurde. […] – nicht mehr so sehr das ‚Ob‘ einer formalisierten Partnerschaft, sondern vielmehr die Frage im Vordergrund stand, ‚was nicht‘ sein soll.“ 358Ebd., 91.
Das Innenministerium schrieb in das Gesetz, dass eine Verpartnerung nicht vor dem Standesamt, sondern bei der Bezirksverwaltungsbehörde vollzogen werden soll. Kein Ja-Wort, keine Trauzeugen. Die gemeinsame Adoption bzw. die Adoption der Kinder des Partners/der Partnerin wurde ausdrücklich verboten und die Beistandsverpflichtung des Partners/der Partnerin erstreckte sich, anders als bei Ehegatten, nicht auf das Wohl der Kinder. Zum Ausdruck dieser „Art Glaubenskrieg“ 359Ebd., 92. zwischen (gesellschafts)politischen Lagern wurde dabei insbesondere der Kampf um den Begriff der „Familie“. So verloren Personen in Eingetragener Partnerschaft ihren Familiennamen und hatten nunmehr einen Nachnamen zu führen. Kritik an dieser Ungleichbehandlung durch das Bundeskanzleramtes wurde weggewischt: Dies sei schon im Sommer 2008 zwischen Innenministerin Fekter und Justizministerin Berger so vereinbart worden. 360BMJ-B4.000-0023-I 1-2009, Referat Gröger. Um zu vermeiden, dass das Partnerschaftsgesetz unter der Bezeichnung „Familienrechtsänderungsgesetz 2008“ eingebracht wurdr, forderte die ÖVP eine Umbenennung des Pakets. Man einigte sich auf „Zivilrechtsänderungsgesetz 2008“.
Am 3. Dezember 2009 wurde das Eingetragene Partnerschaft-Gesetz (EPG) schließlich im Justizausschuss des Nationalrates beschlossen. Dabei wurde von den Koalitionspartnern, den Abgeordneten Mag. Heribert Donnerbauer und Dr. Johannes Jarolim, noch ein umfangreicher Abänderungsantrag eingebracht und in die Vorlage eingearbeitet. Es handelte sich um die Anpassung dutzender Bestimmungen, die von ÖVP-Ressorts vergessen worden waren, vor allen Einstiegsmöglichkeiten in Wirtschaftsbetriebe für PartnerInnen und dgl. Beseitigt wurde ein „Redaktionsversehen“ im Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) und die Freistellung zur Begleitung schwerst kranker oder sterbender leiblicher Kinder der Eingetragenen Partnerin bzw. des Partners ermöglicht, falls „diese aus wichtigen wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen kein Elternteil übernehmen kann“. 361558 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXIV. GP, Bericht des Justizausschusses vom 3. Dezember 2009
Das Partnerschaftsgesetz wurde am 10. Dezember 2009 im Nationalrat mit 110 Ja- gegen 64 Nein-Stimmen in namentlicher Abstimmung mit den Stimmen der SPÖ-ÖVP gegen die Stimmen der FPÖ angenommen. Auch die Grünen stimmten gegen das Gesetz, nur zwei Abgeordnete waren dafür. Dies wurde mit BZÖ-Stimmen kompensiert, die die Abstimmung freigegeben hatten. 362Parlamentskorrespondenz Nr. 1097 vom 10.12.2009, https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2009/pk1097#XXIV_NRSITZ_00049 Damit trat das Gesetz am 1. Jänner 2010 tatsächlich in Kraft. Bereits das erste Paar, welches sich am 4. Jänner 2010 in Graz öffentlich verpartnerte, zog gegen diskriminierende Regeln vor den Verfassungsgerichtshof. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erachtete im April 2010 das Verbot der künstlichen Befruchtung für menschenrechtswidrig. Das RKL startete eine „Klagsoffensive“, mit der die absurden Unterschiede zwischen Ehe und EPG nach und nach fielen. Eine der bizarrsten Unterschiede, der aber weitreichende Folgen hatte, fiel als erste am 22. September 2011. Die unterschiedliche Ausgestaltung von Doppelnamen bei Ehe und EP (mit bzw. ohne Bindestrich) wurde für verfassungswidrig erklärt. 363VfGH 22.10.2011, B 518/11. In diesem Erkenntnis hielt er zudem fest, dass auch gleichgeschlechtliche Paare den verfassungsgesetzlichen Schutz der Familie genießen. In weiteren Erkenntnissen ordnete der VfGH für die Schließung von Ehe und EP die gleiche Zeremonie (Ja-Wort, Trauzeugen etc) an. 364VfGH 12.12.12, B 121/11, B 137/11.
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 365EGMR 19010/07 - X et al. vs. Austria. führte zur Aufhebung des Verbots der Stiefkindadoption bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Als Reaktion darauf trat am 1. August 2013 das Adoptionsrechts-Änderungsgesetz 2013 in Kraft. Im selben Jahr hat der VfGH „mit einer weltweit bahnbrechenden […] Entscheidung die gesetzliche Beschränkung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung auf verschiedengeschlechtliche Ehen und Lebensgemeinschaften aufgehoben.“ 366VfGH 10.12.2013, G 16/2013, G 44/2013, vgl. https://www.rklambda.at/index.php/de/groesste-erfolge (Eintrag 2014). 2015 folgte noch die Aufhebung des Verbots der gemeinsamen Adoption durch gleichgeschlechtliche, eingetragene Paare. 367VfGH 11.12.2014, G 119-120/2014. Damit waren die wesentlichen diskriminierenden Unterschiede zwischen Ehe und EP aufgehoben.
Bereits Ende 2015 hatte die Community die Bürgerinitiative betreffend „Ehe Gleich! Aufhebung des Eheverbots für gleichgeschlechtliche Paare“ im Nationalrat eingebracht, die überparteilich und ohne Unterstützung eines Massenmediums mit über 60.000 Unterstützer*innen ein beachtliches Ergebnis erzielt hatte. Dazu veranstaltete der Petitionsausschuss am 30. Juni 2016 ein Novum: zu sechs ausgewählten Anliegen wurde ein Hearing abgehalten. So konnte Erstunterzeichner Helmut Graupner die Forderung nach Aufhebung des Eheverbots für gleichgeschlechtliche Paare erläutern: „Während die VertreterInnen der SPÖ, der NEOS und der Grünen das Anliegen voll unterstützten, gab ÖVP-Mandatar Wolfgang Gerstl zu bedenken, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keinen Änderungsbedarf sieht, zumal es das Rechtsinstitut der Verpartnerung gibt.“ 368Parlamentskorrespondenz Nr. 780 vom 30.06.2016; https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2016/pk0780#XXV_BI_00085
Was in Österreich politisch nicht im Nationalrat gelöst werden konnte, erledigte schließlich das Höchstgericht: Am 4. Dezember 2017 öffnete der VfGH die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und die eingetragene Partnerschaft für verschiedengeschlechtliche Paare. „Der VfGH (das erste und älteste Verfassungsgericht der Welt) ist damit das erste Gericht Europas, das das Eheverbot für gleichgeschlechtliche Paare aufgehoben hat. Und Österreich das erste Land Europas, das die Ehegleichheit als Menschenrecht anerkennt und verwirklicht. In den anderen europäischen Ländern erfolgte die Eheöffnung (lediglich) auf politischem Weg“ 369VfGH 04.12.2017, G 258/2017, vgl. https://www.rklambda.at/index.php/de/groesste-erfolge (Eintrag 2017)., resümierte das RKL.
In den Jahren von 2010 bis inkl. 2023 haben 2.686 Männerpaare und 2.040 Frauenpaare eine Eingetragene Partnerschaft (EP) geschlossen. 2019 wurde dann durch den Verfassungsgerichtshof einerseits die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und andererseits die EP für verschiedengeschlechtliche Paare geöffnet. In der Praxis wird nun die EP vor allen von gemischtgeschlechtlichen Paaren bevorzugt, während gleichgeschlechtliche Paare meist heiraten. In den fünf Jahren von 2019 bis inkl. 2023 haben 1.712 Männer- und 2.105 Frauenpaare eine Ehe geschlossen. 370Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2020, S. 44, Tabelle 13; Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2022, S. 47, Übersicht 10.
Berücksichtigt man – um Doppelzählungen zu vermeiden – jene 345 Männer- bzw. 193 Frauenpaare, die 2019 bis 2023 ihre bereits bestehende EP in eine Ehe umgewandelt haben, so haben in Österreich bis inkl. 2023 knapp über 8.000 gleichgeschlechtliche Paare ihre Beziehung durch Eingetragene Partnerschaft oder die Ehe rechtlich abgesichert. In Relation zur Bevölkerung liegt Österreich damit im europäischen Durchschnitt – auch das Überwiegen weiblicher Paare ist international zu beobachten.
Exkurs zum Personenstandsrecht: Staatliches Unrecht aufgrund der Geschlechtsidentität
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Die Aufarbeitung des staatlichen Umgangs mit LGBTIQ-Personen in der Zweiten Republik kann ohne eine Betrachtung des vielfältigen Unrechts, dass Personen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität widerfahren ist, keinen Anspruch auf Vollständigkeit stellen. Dieses vielschichtige Thema benötigt gerade angesichts der andauernden Diskriminierungserlebnisse, mit denen insbesondere trans* Personen bis heute konfrontiert sind, in Zukunft noch weitere Forschungs- und Aufarbeitungsarbeit. 371Im folgenden Exkurs wird die Bezeichnung ‚trans*‘ entsprechend der Definition der deutschen Antidiskriminierungsstelle als Begriff für Personen verwendet, „denen bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen wurde, das nicht ihrer Identität entspricht“: „Trans* ist ein Oberbegriff, der verschiedene Menschen bezeichnet, die sich nicht mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Transgeschlechtliche Menschen sind beispielsweise trans* Frauen (Frauen, die bei der Geburt den Geschlechtseintrag "männlich" erhalten hatten). trans* Männer (Männer, die bei der Geburt den Geschlechtseintrag "weiblich" erhalten hatten), aber auch Menschen, die sich geschlechtlich nicht verorten (lassen) möchten. Das Sternchen in der Bezeichnung soll Raum für verschiedene Identitäten lassen, wie beispielsweise transident, transsexuell oder nicht-binär ...“ Antidiskriminierungsstelle des Bundes (https://www.antidiskriminierungsstelle.de/). Andere Begriffe, die in diesem Exkurs im Kontext mit trans* Personen verwendet werden, kommen nur dann zum Einsatz, wenn sie, wie beim Beispiel „Tarnssexuellen-Erlass“ konkrete Rechtsstücke o.ä. zitieren oder auf solche referenzieren. Der vorliegende Exkurs kann deshalb nur einen kurzen Überblick über einen spezifischen Aspekt der staatlichen Regulierung und des damit einhergehenden Unrechts gegen Personen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität liefern – über das Personenstandsrecht.
Es sei vorab darauf hingewiesen, dass das Themengebiet dieses Exkurses über den konkreten Forschungsauftrag der vorliegenden Studie hinausgeht und vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, rechtliche Fragen bearbeitet, die im Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für Inneres und nicht des Bundesministeriums für Justiz liegen. Nichtsdestotrotz leistet die überblicksmäßige Aufarbeitung der rechtlichen Anerkennung vielfältiger Geschlechtsidentitäten – die in manchen Bereichen auch mit Fragen des Geschlechtsausdrucks und der Geschlechtsmerkmale, also der Situation intergeschlechtlicher und nicht-binärer Menschen, vermischt wurde – eine notwendige Ergänzung und Kontextualisierung zum spezifischen Forschungsziel dieser Arbeit. Außerdem ist gerade in diesem Kontext der Einfluss von Einrichtungen des Justizsystems, insbesondere durch Entscheidungen der Höchstgerichte, von besonderer Bedeutung.
Dabei ist einleitend festzustellen, dass insbesondere die Geschichte und Lebensrealität von trans* Personen, genauso wie von intergeschlechtlichen Menschen und Personen, die außerhalb des binären Geschlechterspektrums leben, in Österreich ein viel zu wenig erforschtes Gebiet darstellen und dringend weiteren Forschungseinsatz benötigen. Dabei beleuchtet der vorliegende Exkurs nur die Rechtsentwicklung bis zur Aufhebung der so genannten ‚Scheidungs-‘ und ‚Operationszwänge‘ für trans* Personen und kann nicht in notwendigem Maß auf die späteren Entwicklungen und Folgen des Verfassungsgerichtshofs-Entscheides zu alternativen Geschlechtseinträgen aus dem Jahr 2018 eingehen. 372Vgl. VfSlg 20.258/2018. Der Vollständigkeit wegen soll hier nur auf die aus diesem VfGH-Entscheid resultierenden und bis heute nicht ausverhandelten Fragestellungen über die rechtliche Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt im österreichischen Rechtssystem verwiesen werden:
„Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat im Jahr 2018 in einem aufsehenerregenden Erkenntnis verfügt, dass ein positiver personenstandsrechtlicher Geschlechtseintrag auch jenseits von männlich und weiblich verfassungsrechtlich geboten ist. In diesem Gefolge kann nun eine nicht der binären Norm von männlich oder weiblich entsprechende Geschlechtsidentität Grundlage für einen eigenen Geschlechtseintrag sein – unter welchen Voraussetzungen, das ist kontrovers. Denn der VfGH hat keine Gesetzesänderung verfügt, sondern die Verwaltung beauftragt, angemessene Entscheidungen zu treffen.“ 373Elisabeth Holzleithner, Der geschlechtliche Personenstand. Szenen einer Odyssee. In: Rainer Hofmann, Sven Hölscheidt, Philipp Mörth, Jürgen Pirker, Magdalena Pöschl, Ewald Wiederin (Hrsg.), Festschrift für Franz Merli (Baden-Baden 2023), 181-198, hier 182.
Dass diese, durch den VfGH 2018 aufgeworfene Thematik auch einige Jahre nach dem Entscheid für Debatten sorgt, reiht sich in die bewegte Geschichte des politischen und rechtlichen Umgangs mit geschlechtlicher Vielfalt in der Zweiten Republik.
Wie Persson Perry Baumgartinger in einer hochaktuellen Dispositivgeschichte ausführt, gehört dabei die staatliche Regulierung von trans* Personen durch ein zwei- geschlechterdispositiv organisiertes Rechtssystem untrennbar zur Rechtslage der Zweiten Republik: 374Als Zwei-Geschlechterdispositiv bezeichnet Baumgartinger jene gesellschaftlichen und politischen Dynamiken, die darauf abzielen, das binäre Geschlechterverständnis in rechtlichen Normen zu konservieren. Es soll in den kommenden Ausführungen dieses Exkurses als thematischer Grundrahmen betrachtet werden.
„Wenn automatisch von zwei ‚natürlichen‘, bei der Geburt zu bestimmenden, konstanten Geschlechtern ausgegangen wird, müssen ‚Regelungen‘ gefunden werden, falls diese Voraussetzungen nicht erfüllt werden (können). Damit wird eine Zweigeschlechterordnung aufrechterhalten und gleichzeitig legitimiert.“ 375Vgl. Persson Perry Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von trans. Eine Dispositivgeschichte (Bielefeld 2019), 9.
Auf Basis dieser Grundlage erfolgt die Einteilung der Bevölkerung in die Geschlechtskategorien Mann und Frau aufgrund rein biologischer Merkmale zum frühestmöglichen Zeitpunkt: Das aktuell gültige Personenstandsgesetz definiert dahingehend das Geschlecht einer Personen als zentrales Personenstandsmerkmal und verpflichtet zur Eintragung desselben bei der Anzeige einer Geburt „spätestens eine Woche nach der Geburt“ (§ 9 PStG 2013), wobei „zumindest der erste Vorname dem Geschlecht des Kindes nicht widersprechen“ (§ 13 Abs. 2 PStG 2013) darf. 376Bundesgesetz über die Regelung des Personenstandswesens (Personenstandsgesetz 2013 – PStG 2013). Für Änderungen des Personenstandes existieren in Österreich über lange Zeit keine zentralen gesetzlichen oder verwaltungspraktischen Abläufe. Dieser Umstand wurde erst im Jahr 1980 durch einen Erlass des Bundesministeriums für Inneres geändert, der alle Anträge zur Änderung eines Personenstandes durch verpflichtende Weiterleitung in die direkte Kompetenz des Ministeriums zog und diese Praxis bis 2010 verankerte. 377Baumgartinger führt diesen Schritt auf zunehmenden Druck durch steigende Antragszahlen von trans* und intergeschlechtlichen Personen an Verwaltungsbehörden, insbesondere an die Standesämter, zurück, die auf kein geregeltes Vorgehen hinsichtlich möglicher Personenstandsänderungen zurückgreifen konnten: „Die zuständigen Beamten können diese Personen bzw. deren Körper (über die das verwalterische Geschlecht festgestellt wird) keinem der beiden verwalterisch-legalen Geschlechter Mann/Frau zuordnen. Dies findet mindestens in zwei Situationen statt: Etwa wenn 1) im Geburtenbuch der Geschlechtseintrag ‚männlich‘ vermerkt ist, die Person aber ein über medizinische Unterstützung geschaffenes, ‚eindeutig‘ weibliches Körpergeschlecht vorweist oder z.B. wenn 2) eine Person mit einem für die Beamt_innen ‚eindeutig‘ erscheinenden Körpergeschlecht weiblich (also ohne medizinische Veränderung) einen Antrag auf männlichen Geschlechtsstatus stellen.“ Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von trans, 97. Wie Baumgartinger ausführt, ist der Erlass des BMI aus dem Jahr 1980 in seiner Reinform heute nicht erhalten, aber aus Interviews und dem Folge-Erlass 1981 rekonstruierbar. Vgl. ebd. 102.
Ein unveröffentlichter Bericht des Innenministeriums aus dem Jahr 1980 zeigt, dass die bis dahin gestellten Anträge auf eine Personenstandsänderung die Schwierigkeiten der fehlenden Rechtslage widerspiegelten: 378Vgl. Oskar Edlbacher, Die Transsexualität im Zivil- und im Personenstandsrecht. In: Österreichische Jurist:innenzeitung – ÖJZ, Jahrgang 36, Heft 7 (1981), 176. Sieben Anträge bezogen sich auf eine Änderung bzw. Berichtigung des Geschlechtseintrags im Geburtenbuch, wobei je einer Änderung und einer Berichtigung stattgegeben wurde. 379Unter Verweis auf das ab 1984 geltende Personenstandsgesetz – das eine Berichtigung in Fällen vorsah, in denen der Personenstand unrichtig geworden ist, und eine Änderung in jenen Fällen, in denen der Eintrag zum Zeitpunkt seiner Eintragung unrichtig war (vgl. PStG 1984) – führt Baumgartinger den Unterschied zwischen Berichtigung und Änderung wie folgt aus: „Der Begriff ‚Änderung‘ bezieht sich in diesem Kontext auf die Personenstandsänderung von trans Personen, jener der ‚Berichtigung‘ auf die von inter* Personen.“ Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von trans, 101. Darüber hinaus beantragten 16 Personen eine Änderung des Vornamens, wobei 13 ohne Änderung des Geschlechtseintrags bewilligt wurden. Zehn dieser 13 Personen hatten zuvor außerhalb Österreichs eine geschlechtsangleichende Operation vorgenommen –Jene Personen ohne operative Eingriffe mussten „eine Diagnose ‚Transsexualität‘ bzw. ‚Intersexualität‘ ‚fachärztlich beweisen‘“, wodurch unterstrichen wird, dass die „pathologisierende Praxis […]also nicht erst im Transsexuellen-Erlass von 1983 eingeführt, sondern im Rahmen des Erlasses übernommen und festgeschrieben“ wurde. 380Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von trans, 101. Gleichzeitig geht der Bericht davon aus, dass eine weitaus größere Zahl von Personen von einem entsprechenden Antrag abgesehen hat, da eine Änderung des Personenstandes von den zuständigen Behörden als aussichtslos dargestellt wurde. 381Edlbacher, Die Transsexualität im Zivil- und im Personenstandsrecht, 176. Bemerkenswert bleibt, dass geschlechtsanpassenden Operationen damit eine große rechtliche Bedeutung als Grundlage für die mögliche personenstandsrechtliche Anerkennung von trans* Personen zugemessen wurde, obwohl solche medizinischen Eingriffe innerhalb Österreichs bis zur Strafrechtsreform 2001 strafrechtlich geahndet wurden: 382Geahndet wurden geschlechtsangleichende Operationen durch das Strafrecht als Körperverletzung nach § 90 Abs. 1 StGB oder als „Verstoß wider die guten Sitten“ nach § 90 Abs. 1 StGB.
„Die rechtswissenschaftliche Diskussion in Österreich konzentrierte sich lange Zeit auf die Frage nach der Erlaubtheit geschlechtsanpassender Eingriffe, die zunächst mit dem Argument, es handle sich um betrügerische und sittenwidrige Handlungen verneint, schließlich analog zu medizinischen Experimenten und kosmetischer Chirurgie bei Einwilligung der Betroffenen bejaht wurde, erst seit 2001 werden geschlechtsanpassende Operationen im Strafrecht als Heilbehandlungen eingestuft und erfüllen somit nicht den Tatbestand der (schweren) Körperverletzung (…).“ 383Elisabeth Greif, Diskriminierung von transidenten Personen – Diskriminierung aufgrund des Geschlechts? Auf: www.gleichbehandlungsanwaltschaft.gv.at
Nachdem das BMI 1980 als Reaktion auf diese Entwicklung per Erlass die Zuständigkeit von Personenstandsänderungen an sich gezogen hat, wird am 10. Dezember 1981 ein Folge-Erlass bezüglich „Transsexuelle; personenstandsrechtliche Stellung“ ausgesandt. 384Vgl. BMI, Erlass Transsexuelle; personenstandsrechtliche Stellung. Nr. 1/82; 10.582/10-IV/4/81 (10.12.1981) Darin werden sowohl für trans* als auch intergeschlechtliche Personen Kriterien der Erhebung definiert, welche von den zuständigen Behörden hinsichtlich medizinischer und psychologischer Gutachten, sowie der vorgeschlagenen Erledigung gesammelt an das BMI übermittelt werden sollen. Die Entscheidung über die Anträge oblag, gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem BMJ, dem Innenministerium: „Spätestens mit dem Erlass von 1981 beginnt die zentralisierte Regulierung von Trans.“ 385Ebd. Als zuständige Behörden wurden dabei für die Vornamensänderung die Bezirksverwaltungsbehörden oder die Bundespolizeibehörde, für Geschlechtseintragsberichtigungen die Bezirksverwaltungsbehörde, sowie für Geschlechtseintragsänderungen die Standesbeamt*innen definiert.
Auf Basis dieser Erlässe wurde eine Ministerielle Arbeitsgruppe aus BMI, BMJ, dem Bundesministerium für Gesundheit, dem Verfassungsdienst des BKA und medizinischen Sachverständigen eingesetzt. 386Bei diesen Sachverständigen dürfte es sich laut Baumgartinger um das Institut für Gerichtsmedizin, den Obersten Sanitätsrat, sowie einzelne Psychiater*innen gehandelt haben. Diese Arbeitsgruppe dürfte jedoch selten getagt haben, die relevanten Entscheidungen dürften zwischen 1980 und 2010 eher durch „eine intensive Kooperation des Innen- und Justizministeriums“ getroffen worden sein. Vgl. Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von trans, 103 f. Diese Arbeitsgruppe bereitete den zusammenfassenden ‚Transsexuellen-Erlass‘ vor, der 1983 veröffentlicht wurde. Gleichzeitig zu den Vorarbeiten für diesen Erlass wurde eine Novellierung des Personenstandsgesetzes diskutiert, das am 9. Februar 1983 verabschiedet wurde und am 1. Jänner 1984 in Kraft trat. Am 11. Juni 1983 veranstaltete der Oberste Sanitätsrat im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit außerdem eine Tagung mit dem Thema „Transsexualismus; operative Geschlechtsumwandlung“. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen wurde 1984 als Gutachten veröffentlicht und bildete folglich „inhaltlich die Grundlage der staatlichen Regulierung von Trans“. 387Ebd., 104. Die vier, in diesem Gutachten definierten, Kernelemente hatten laut Analysen von Baumgartinger enormen Einfluss auf die weiteren staatlichen Schritte zur Regulierung von trans* Personen: „Trans sei ein ‚Symbolbild kontrasexuell identifizierter Personen‘, diese hätten eine ‚Abscheu gegen ihre Genitalausstattung‘ und daher den ‚unverrückbaren Wunsch nach operativer Geschlechtsumwandlung‘. Bereits hier gelten ‚ein operatives Vorgehen als auch eine lebenslange medikamentöse Verabreichung von Hormonen‘ (...) als zwingend. Zusätzlich werden zwei Jahre Psychotherapie und etliche psychiatrische Gutachten gefordert. Diese Definition von Trans wird im Erlass 1983 (...) übernommen, 1997 in den Behandlungsempfehlungen verfestigt und hält sich im Wesentlichen über die folgenden Erlässe bis zu den revidierten Behandlungsempfehlungen im Juli bzw. August 2014, Februar 2015 sowie Juni 2017 und Dezember 2017 für Kinder und Jugendliche.“ Ebd.
Auf Basis dieser Vorarbeiten wurde am 18. Juli 1983 der zentrale Erlass „Transsexuelle; Personenstandsrechtliche Stellung“ veröffentlicht. 388Vgl. Bundesministerium für Inneres; 10.582/24-IV/4/83 (18. Juli 1983). Begründet wurde dieser Erlass wie folgt:
„Dies [die Ergebnisse der vorangegangenen Besprechungen, Anm.] und die Tatsache, daß die in einzelnen Staaten getroffenen gesetzgeberischen Maßnahmen zum Teil stark voneinander abweichen, hat zur übereinstimmenden Auffassung aller beteiligten Bundesministerien geführt, eine legistische Initiative sei in Österreich nicht zweckmäßig, zumal es sich offenkundig nur um wenige Fälle handelt. Ebenso besteht Übereinstimmung, daß zumindest die Fälle bereinigt werden sollen, in denen bereits operative und begleitende sonstige medizinische Maßnahmen mit dem Ziel einer wenigstens äußerlichen Angleichung an das Gegengeschlecht durchgeführt wurden.“ 389Ebd.
Die Voraussetzung für eine Änderung des Geschlechtseintrages, die durch Sachverständige auf Basis eines Gutachtes des Instituts für Gerichtsmedizin der Universität Wien begründet sein muss, wurden in diesem Erlass wie folgt definiert:
„3.3 Das Gutachten muß erweisen, daß
3.3.1 der Antragsteller längere Zeit unter der zwanghaften Vorstellung gelebt hat, dem anderen Geschlecht zuzugehören, was ihn veranlaßt hat, sich geschlechtskorrigierenden Maßnahmen zu unterziehen;
3.3.2 diese Maßnahmen zu einer deutlichen Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts geführt haben;
3.3.3 mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, daß sich am Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nichts mehr ändern wird.“ 390Ebd.
Damit wurden nicht nur die vier zentralen Merkmale der staatlichen Regulierung von trans* Personen – „zwanghafte Vorstellung […] dem anderen Geschlecht anzugehören“, Vornahme genitalverändernder Maßnahmen, Annäherung des „äußeren Erscheinungsbilds“ und „hohe Wahrscheinlichkeit“ der Beibehaltung des „Zugehörigkeitsempfinden(s) des anderen Geschlechts“ – festgeschrieben, sondern insbesondere auch der so genannte ‚Operationszwang‘, also die Verpflichtung zur Durchführung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen als Voraussetzung für die personenstandsrechtliche Anerkennung von trans* Personen. 391Konkret sei dazu auf die rechtliche Beurteilung der Plattform TransX verwiesen: „Der Erlass forderte weder Sterilität (wie etwa das deutsche TSG 1980, §8) noch operative Eingriffe. Das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Wien (...) auf die die Entscheidungskompetenzen übertragen wurden, setzte jedoch ohne jegliche rechtliche Grundlage genitalanpassende Operationen für die Bestätigung der ‚Annäherung des äußeren Erscheinungsbildes‘ voraus. Von Transfrauen forderte sie die Entfernung des Penis und der Hoden, die Bildung einer Neovagina und Neoclitoris, nicht aber einen Brustaufbau. Transmänner waren zur Entfernung der Gebärmutter, der Eierstöcke und der weiblichen Brust gezwungen. Ein Penisaufbau wurde ihnen (bzw. den Krankenkassen) nicht abverlangt.“ TransX (https://www.transx.at/Pub/Rechtsentwicklung.php)
Darüber hinaus etablierte der Erlass des Jahres 1983 auch einen weiteren staatlichen Zwang, den so genannten ‚Scheidungszwang‘, der wie folgt formuliert wurde:
„3.5.1 Nach übereinstimmender Auffassung der Bundesministerien für Inneres und Justiz kann jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Eintragung eines Randvermerks über die Änderung des Geschlechts im Geburtenbuch eine allenfalls früher von der betreffenden Person eingegangene Ehe nicht mehr bestehen. Andererseits muß eine Ehe bis zu diesem Zeitpunkt als bestehend angesehen werden und sind daher aus dieser Ehe stammende Kinder ehelich.
3.5.2 Daraus ist abzuleiten, daß in Fällen der gegenständlichen Art neben einem Randvermerk über die Änderung des Geschlechts im Geburtenbuch unter Hinweis auf diese Entscheidung auch ein Randvermerk über das Nichtbestehen der Ehe im Familienbuch einzutragen ist.“ 392Vgl. Bundesministerium für Inneres; 10.582/24-IV/4/83 (18. Juli 1983).
Die unter den Schlagwörter ‚Operationszwang‘ und ‚Scheidungszwang‘ – der durchaus auch als Mittel gesehen werden kann, Ehen zwischen Personen desselben Geschlechtseintrags über den vermeintlichen ‚Umweg‘ einer Personenstandsänderung zu verunmöglichen – stark kritisierten Auflagen für eine Personenstandsänderung sollten bis in die 2000er-Jahre zentrale Säulen der staatlichen Eingriffe in die Selbstbestimmung von trans* Personen darstellen. 393Konkret wird die automatische Auflösung von Ehen durch die Personenstandsänderung einer beteiligten Person durch das BMI im Jahr 1996 in einen tatsächlichen ‚Zwang‘ zur vorausgehenden Scheidung umformuliert und bleibt bis zur Aufhebung durch den VfGH 2006 gültig. Vgl. Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von Trans, 105.
Nach einer längeren Umsetzungsphase, in der das Verwaltungshandeln des Bundes auf Basis des Transsexuellen-Erlasses etabliert wurde, erfolgte erst im Jahr 1996 dessen nächste umfassende Novellierung. 394Ein weiterer Erlass vom 12. April 1985 brachte keine inhaltlichen Veränderungen, sondern verwies rein auf den Erlass des Jahres 1983 und „erinnert insbesondere an das Einholen des gerichtsmedizinischen Gutachtens“, woraus geschlossen werden kann, dass bis dahin „Personenstandsänderungsanträge positiv ermittelt an das Innenministerium gehen, ohne die Gerichtsmedizin mit einem Gutachten zu beauftragen“. Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von Trans, 106. Hinsichtlich der Vornamensänderung etablierte das „Bundesgesetz vom 22. März 1988 über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (NÄG, Namensänderungsgesetz)“, dass ein Vorname geändert werden kann, wenn dieser „nicht dem Geschlecht des Antragsstellers entspricht“. 395§ 2 Abs. 2 NÄG 1988. Klargestellt wird durch dieses Gesetz auch die Verpflichtung, dass Vornamen geschlechtsspezifisch dem Geschlecht der antragstellenden Person entsprechen müssen und abzulehnen sind, wenn „der beantragte Vorname nicht gebräuchlich oder dem Wohl des Kindes abträglich ist, oder als erster Vorname nicht dem Geschlecht des Antragstellers entspricht“. § 3 Abs. 5 NÄG 1988.
Relevant wird in dieser Zeit auch die Frage der Kosten für die, durch die rechtlichen Rahmenbedingung notwendigen, Gutachten für trans* Personen. Wie Baumgartinger ausführt, versuchte erstmals Anfang der 1990er-Jahre eine trans* Frau, von der Wiener Gebietskrankenkasse Erstattungen bzw. Zuschüsse für psychotherapeutische und operative Leistungen zu erhalten. Nachdem diese Anträge 1993 abgewiesen wurden und einer Revision durch den Obersten Gerichtshof 1996 stattgegeben wurde, wurden ihre Anträge schließlich „nach längerem Hin und Her zwischen Erstgericht und Oberstem Gerichtshof (…) am 23. Juni 1998 großteils abgewiesen“. 396Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von Trans, 107.
Am 27. November 1996 wird durch das Bundesministerium für Inneres ein novellierter Transsexuellen-Erlass „Personenstandsrechtliche Stellung Transsexueller; Transsexuellen Erlass“ veröffentlicht, dem eine „familien-, sozial- und menschenrechtliche Kritik der automatischen Auflösung der Ehen voraus(geht)“ und der schon in seinen Vorbemerkungen feststellt: 397Ebd., 108.
„1. Es wird besonders darauf hingewiesen, daß Betroffene zum Zeitpunkt der Eintragung eines Randvermerks über die Änderung des Geschlechts nicht verheiratet sein dürfen (s. Pkt. 2.4 des angeschlossenen Erlasses).“ 398BMI: 36.250/66-IV/4/96 (27.11.1996)
Der damit tatsächlich etablierte ‚Scheidungszwang‘ erfordert die Scheidung bestehender Ehen, bevor eine Personenstandsänderung durchgeführt werden kann. Dass die Situation von trans* Personen dadurch nicht verbessert wurde, unterstreicht Baumgartinger wie folgt:
„Dies ist auf individueller Ebene für einzelne trans Personen besonders prekär, da in Österreich eine Scheidung nur bei ‚unheilbar zerrütteten‘ Ehen bewilligt wird. Abgesehen von der Tatsache, dass die staatliche Verwaltung Einzelpersonen dazu zwingt, die Ehe aufzulösen, wollen viele trans Personen und ihre Angehörigen die Ehe gar nicht auflösen und sind gezwungen, die Ehe als ‚unheilbar zerrüttet‘ darzustellen.“ 399Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von Trans, 108.
Außerdem wird durch diesen Erlass neben der Vornamensänderung in einen geschlechtsspezifischen Vornamen, der weiterhin operative Eingriffe voraussetzt, die Möglichkeit einer geschlechtsneutralen Vornamensänderung eingeführt, wofür jedoch ebenfalls ein ‚Transsexualität‘ bestätigendes Gutachten notwendig ist. Ansonsten bleiben die relevanten Inhalte des Erlasses aus dem Jahr 1983 weiterhin in Kraft.
Neben dem Erlass des Jahres 1983 und seinen Folge-Erlässen kommt in den folgenden Jahrzehnten den „Behandlungsempfehlungen“, die im Juni 1997 auf Basis des bereits erwähnten Gutachtens des Obersten Sanitätsrates veröffentlicht wurden – und die „in den 2000er-Jahren immer wieder in Diskussion, vor allem in Bezug auf Kinder und Jugendliche sowie die Kürzung der vorgegebenen Anzahl von Therapiestunden“ stehen – besondere Bedeutung für die staatliche Regulierung von trans* Personen zu. 400Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von Trans, 105. Die in diesen „Empfehlungen für den Behandlungsprozess von Transsexuellen in Österreich“ festgeschriebenen zehn Schritte einer Transition und ihre Auswirkungen auf Betroffene sind ein bis heute wenig erforschtes Gebiet und machen dringend weitere Forschungsarbeiten notwendig. In diesem Exkurs kann auf sie daher nicht in gebührendem Maße eingegangen werden.
Die 1990er- und 2000er-Jahre sind vor dem Hintergrund dieser Ausgangslage geprägt von zunehmenden politischen und medialen Diskussionen über die staatliche Regulierung von trans* Personen und einem zunehmenden zivilgesellschaftlichen Einsatz von Betroffenen und Verbündeten für mehr Selbstbestimmung. Dieser Einsatz drückt sich auch in einer Reihe von Gerichtsverfahren aus, die schließlich im Jahr 2006 zur Aufhebung des Scheidungszwangs durch den Verfassungsgerichtshof führt:
„Der Erlass [Transsexuellen-Erlass 1996, Anm] trage dem Umstand Rechnung, dass die gleichgeschlechtliche Ehe nicht vorgesehen ist und als den Grundwerten der Rechtsordnung zuwiderlaufend angesehen werde. […]
Es handelt sich also bei dem in Prüfung Gezogenen um eine Rechtsverordnung, die im Bundesgesetzblatt kundgemacht hätte werden müssen (§ 2 Abs. 1 lit. f BGBlG). Sie ist mangels gehöriger Kundmachung als gesetzwidrig aufzuheben.
2. Es entbehrt aber auch ihr Inhalt in Punkt 2.4, wonach ein Randvermerk über die Änderung des Geschlechts im Geburtenbuch nur dann eingetragen werden darf, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin nicht verheiratet ist, einer gesetzlichen Grundlage. Das PersonenstandsG trifft für den Fall der Änderung des Geschlechts keine besondere Regelung. […] Die Beurkundung des Geschlechts einer Person kann nicht durch den Bestand einer Ehe gehindert werden. Ob umgekehrt die durch eine Änderung des Geschlechts eintretende Gleichgeschlechtlichkeit bisheriger Ehepartner am Fortbestand der Ehe etwas ändert oder deren Auflösung herbeiführt, erzwingt oder ermöglicht, hat jedenfalls nicht die mit der Änderung der Eintragung im Geburtenbuch befasste Personenstandsbehörde zu beurteilen.“ 401VfGH V4/06, 08.06.2006.
Damit vermied das Höchstgericht deutlich eine Bezugnahme auf die vorgebrachten menschenrechtlichen Bedenken der Kläger*innen, sondern argumentierte seine Entscheidung rein formal- und verwaltungsrechtlich. Daher wurde seitens des BMI kurz darauf, am 18. Juli 2006 die Aufhebung des Transsexuellen-Erlasses kundgemacht und mit 12. Jänner 2007 ein neuer Erlass „betr.: Transsexualität – Vorgehensweise nach Durchführung einer geschlechtsanpassenden Operation“ veröffentlicht. 402Vgl. Bundesministerium für Inneres; VA 1300/0013-III/2/2007 (12.1.2007). In diesem Erlass wurde der, wie bereits beschrieben bis dahin schon de facto existierende, Operationszwang auch formell festgeschrieben: 403Eine Konkretisierung dieses Erlasses erfolgte am 6. Februar 2009 durch einen ergänzenden Erlass des BMI. Vgl. Bundesministerium für Inneres; 1300/0063-III/2/2009 (6.2.2009). Zu dessen Auswirkungen führt Baumgartinger aus: „Das gerichtsmedizinische Gutachten soll diesem Erlass zufolge entfallen, allerdings soll ein fachärztliches Gutachten eingeholt werden, wenn ‚Zweifel‘ an den Operationen bestehen, etwa weil sie außerhalb Österreichs durchgeführt oder ‚mangelhaft‘ befundet seien [...]. In der Alltagspraxis werden weiterhin [...] kostenpflichtige gerichtsmedizinische Gutachten ausgestellt.“ Baumgartinger, Die staatliche Regulierung von Trans, 111. Darin wurde festgeschrieben, dass trans* Personen für eine Personenstandsänderung „insbesondere ein psychotherapeutisches Gutachten und den Befund der geschlechtsanpassenden Operation“ vorzulegen hätten. 404Bundesministerium für Inneres; VA 1300/0013-III/2/2007 (12.1.2007). Um zu unterstreichen, dass es auch in den Jahrzehnten davor die praktische Notwendigkeit genitalanpassender Operationen gab, kann hier eine Stellungnahme des BMJ aus dem Jahr 2005 zu einer parlamentarischen Petition widergegeben werden:
„In inhaltlicher Hinsicht ist dem Bundesministerium für Justiz […] durchaus bekannt, dass die Problematik von Transsexuellen und von Trans-Gender- Persönlichkeiten unterschiedlich gelagert ist, weil nach der herrschenden Rechtslage nur bei ‚echter Geschlechtsumwandlung‘ der Geschlechtseintrag geändert werden kann und dann der Vorname andersgeschlechtlich zu bestimmen ist. Bei einer ‚unechten Geschlechtsumwandlung‘ kann hingegen weder das Geschlecht noch der Vorname im Geburtenbuch berichtigt werden. Soweit ersichtlich dürfte derzeit herrschende Meinung und Praxis sein, dass man von einer echten Geschlechtsumwandlung nur bei Zwittern sprechen kann und eine unechte Geschlechtsumwandlung bei Transvestitismus und bei Transsexualität anzunehmen ist.“ 405Österreichisches Parlament; Stellungnahme zur Petition Nr. 67 „Für eine freie Wahl des Vornamens“, 32/SPET XXII. GP (11.11.2005).
Aufgehoben wurde dieser, nun auch formell etablierte Operationszwang im Jahr 2009. Dabei entschied zuerst der Verwaltungsgerichtshof am 27.2.2009 auf Antrag einer trans* Frau, der die Namens- und Personenstandsänderung ausschließlich aus dem Grund verwehrt worden war, dass sie sich keiner genitalanpassenden Operation unterzogen hatte, dass die Beurkundung des Geschlechtseintrages vor allem von der Geschlechtsidentität abzuhängen habe:
„Der Verwaltungsgerichtshof geht im Hinblick auf die österreichische Rechtslage davon aus, dass ein schwerwiegender operativer Eingriff, wie etwa die von der belangten Behörde geforderte Entfernung der primären Geschlechtsmerkmale, keine notwendige Voraussetzung für eine deutliche Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts ist. […] Ist dieses Zugehörigkeitsempfinden aller Voraussicht nach weitgehend irreversibel und nach außen in der Form einer deutlichen Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechts zum Ausdruck gekommen, ist der österreichischen Rechtsordnung kein Hindernis zu entnehmen, das eine personenstandsrechtliche Berücksichtigung des für die Allgemeinheit relevanten geschlechtsspezifischen Auftretens hindern würde.“ 406406 VwGH Zl. 2008/17/0054-8 (27.2.2009)
Nachdem der Operationszwang damit durch den VwGH gekippt und der entsprechende Erlass „wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben“ worden war, entschied der VfGH am 3. Dezember 2009 über den Antrag einer trans* Frau hinsichtlich der Frage der Beweislast von notwendigen Maßnahmen, die Voraussetzung für eine Personenstands- bzw. Vornamensänderung sind:
„5.1. Der belangten Behörde [BMI, Anm.] ist vorzuwerfen, dass sie in Verkennung des Inhaltes des ‚Schreibens – Transsexualität‘ davon ausgegangen ist, dass die beschwerdeführende Partei Gutachten und Befunde eines unabhängigen Sachverständigen als Beweismittel zwingend beizubringen hat. Dabei hat sie außer Acht gelassen, dass sie von Amts wegen gehalten ist, die materielle Wahrheit zu erforschen. Sie hat in Verkennung ihrer Ermittlungspflicht in unzulässiger Weise die formelle Beweislast umgekehrt.
5.2. Sie hat zu den entscheidungsrelevanten Fragen, ob eine deutliche Annäherung an das äußere Erscheinungsbild des anderen Geschlechtes vorliegt und ob mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass sich am Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nichts mehr ändern wird, Erhebungen unterlassen (vgl. auch VwSlg. 14.748 A/1997).
5.3. Die beschwerdeführende Partei ist sohin in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.“ 407VfGH 3.12.2009, B 1973/08-13.
Während durch diese Urteile auch der Operationszwang gefallen war, hob das BMI durch ein Schreiben vom 11. Mai 2010 die dahingehend zwischen 2007 und 2010 veröffentlichten Erlässe auf und übertrug, erstmals seit 1980, die Entscheidungskompetenz über Personenstandsänderungen wieder an die Länderbehörden. 408Vgl. Bundesministerium für Inneres; VA 1300/0139-III/2/2010 (11.5.2010). Eine einheitliche, zentral geregelte Vorgehensweise zur Anerkennung von trans* Personen im Personenstand gibt es daher in Österreich nicht. Die Vorgehensweise zur Änderung des Geschlechtseintrags wird von den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt.
Dieser Exkurs zeigt die Vielzahl von spezifischen Regulierungen und Eingrenzungen, mit denen trans* Personen in der Geschichte der Zweiten Republik konfrontiert waren. Sowohl hinsichtlich der genauen Auswirkungen der genannten Erlässe, der anzunehmenden hohen Dunkelziffer, des zivilgesellschaftlichen Aktivismus und der Rechtslage nach 2010 gibt es in diesem Bereich noch hohen Forschungsbedarf. Klar scheint aber, insbesondere hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen für eine Personenstandsänderung – ‚Operationszwangs‘ und ‚Scheidungszwang‘ – sowie hinsichtlich der Behandlungsempfehlungen für trans* Personen, dass große Aspekte der staatlichen Regulierung von trans* Personen durchaus den Begriff staatlichen Unrechts beschreiben und vorgenommenen politischen und verwalterischen Entscheidungen großen, meist negativen Einfluss auf die selbstbestimmte Lebensführung der betroffenen Personen gehabt haben. Eine umfassende Entschuldigung für staatliches Unrecht gegen LGBTIQ Personen muss daher notwendigerweise zukünftige Folgemaßnahmen und Aufarbeitungen für die davon negativ betroffenen trans* Personen beinhalten. Ebenso ist eine eigene Aufarbeitung der Situation intergeschlechtlicher Personen in Österreich, insbesondere mit Fokus auf die Auswirkungen von staatlichen Regulierungen auf diese Gruppe, hoch notwendig.
Warum diese Zielsetzung einer umfassenden Aufarbeitung des staatlichen Unrechts gegenüber Personen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität so bedeutend ist, sei zum Abschluss dieses Exkurses deshalb nochmals unter Verweis auf die heute gültige Auslegung der Europäischen Menschenrechtserklärung (EMRK) dargelegt. Die in Österreich im Verfassungsrang stehende EMRK garantiert in Art. 8 das Recht auf Schutz des Privatlebens – ein Recht, das spätestens seit den 2000er-Jahren durchaus auch im Sinne eines „Recht[es] auf individuelle Geschlechtsidentität [zumindest, Anm.] durch einen entsprechenden Geschlechtseintrag“ ausgelegt wird. 409Holzleithner, Der geschlechtliche Personenstand, 184. Dieses Recht wurde nicht nur vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt 410Vgl. dazu ib. EGMR 11.7.2002, Goodwin, Appl. 28.957/95; 12.6.2003, Van Kück, Appl. 35.968/95; 6.4.2017, A.P., Garçon und Nicot, Appl. 79.885/12, 55.471/13 und 52.596/13., sondern wird auch vom VfGH inzwischen in diesem Sinne interpretiert, wie Holzleithner darlegt:
„Der VfGH stützt sich in seinem Erkenntnis ausschließlich auf das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf individuelle Entfaltung; eine Verankerung im Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz wird nicht gesucht. […] Die Rezeption des Erkenntnisses in der Rechtswissenschaft war überwiegend positiv. Aichhorn sieht darin eine neuerliche Absage des VfGH an geschlechterdiskriminierende Rechtsnormen. Mit seiner Erweiterung des Geschlechtsbegriffs ermögliche der VfGH, so Simma, ‚niederschwellig‘ die rechtliche ‚Anerkennung von Varianten der Geschlechtsidentität‘ mit dem Potenzial, auch die ‚soziale Anerkennung‘ voranzutreiben. […] Für progressive Geschlechterpolitik gibt es in Österreich seit langem keine Mehrheit; genau darin liegt der Grund, warum Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität wie der sexuellen Orientierung so häufig vor dem VfGH landen.“ 411Holzleithner, Der geschlechtliche Personenstand, 185 ff.
Damit verweist Holzleithner unter anderem darauf, dass der VfGH mit seinem Entscheid 2018 durchaus nicht nur die Thematik von Intergeschlechtlichkeit behandelt hat, sondern sich auch der Frage des sozialen Geschlechts und damit den Rechten von trans* Personen gewidmet hat. Die damit einhergehende Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte von trans* Personen durch das Höchstgericht wird nicht nur für zukünftige politische und rechtliche Fragen von großer Bedeutung sein, sondern bildet auch einen wichtigen Zwischenschritt in der langen Geschichte der staatlichen Regulierung und des staatlichen Unrechts gegen Menschen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität.
Teil 3: Schlussfolgerungen
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In der Kontinuität der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Menschen in Österreich nach 1945 lassen sich anhand der beschriebenen Entwicklungen eine Reihe zentraler Tendenzen erkennen. Grundlegend kann festgestellt werden, dass sich die Anstrengungen für eine Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen – sowohl des generellen Verbots derselben bis 1971 als auch der spezifischen Folgeparagrafen bis 2002 – im chronologischen Verlauf immer stärker von der legislativen auf die juridische Ebene verlagert haben. Auch unter dem Einfluss einer wachsenden Zivilgesellschaft wurden durch deren Bemühungen Gerichtssäle statt dem Plenum des Nationalrats immer stärker zur direkten oder zumindest indirekten Bühne der Bemühungen für die Rechte der LGBTIQ-Community und gleichgeschlechtlich L(i)ebender im Speziellen. Diese Entwicklung ist, noch stärker als im Bereich des Strafrechts, ab den 2000er-Jahren auch im Bereich des Familien- und Partnerschaftsrecht zu beobachten.
Jene Zivilgesellschaft aber, die genau diese Prozesse angestoßen hat und gleichzeitig durch ‚Lobbying‘, öffentlichen Druck und persönlichen Einsatz die Frage des (straf)rechtlichen Umgangs mit homosexuellen Menschen in Österreich in den öffentlichen Fokus rückte, wurde durch dieselben Regelungen, denen sie sich entgegenstellte, lange Zeit verhindert und in manchen Fällen selbst verfolgt. Während zivilgesellschaftliches Engagement von direkt durch Verfolgung bedrohte Menschen bis 1971 gänzlich illegalisiert wurde, entwickelte sich eine aktive und vor allem in ganz Österreich präsente Zivilgesellschaft für die Rechte queerer Menschen auch nach der Kleinen Strafrechtsreform und angesichts der geltenden Verbindungs- und Werbeverbote erst langsam. Verglichen mit anderen europäischen Ländern, auch mit Deutschland, ist dieses verspätete Zulassen zivilgesellschaftlichen Engagements bis heute bemerkbar und sollte auch langfristige Fragestellungen nach der Notwendigkeit staatlicher Ausgleichsleistungen für eben diese Zivilgesellschaft – auch unter den Gesichtspunkten einer institutionellen und strukturellen Kompensation für die lange anhaltende, eben nicht nur individuelle Verfolgung – aufwerfen. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass, wie die Beispiele dieser Studie gerade hinsichtlich der Aufarbeitung des § 209 zeigen, es zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Initiativen waren, die in vielen Fällen den Opfern einer menschenrechtswidrigen Strafverfolgung zu ihrem Recht verholfen haben.
In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass trotz der inzwischen erfolgten Erfüllung der meisten Forderungen von Zivilgesellschaft und Betroffenen hinsichtlich der Aufarbeitung der Strafverfolgung gegen Homosexuelle zentrale Forderungen derselben bis zum Jahr 2023 noch nicht umgesetzt wurden: Einerseits die Forderung nach der Anrechnung von erlittenen Haftzeiten durch anti-homosexuelle Strafverfolgung auf die Pensionsansprüche. Andererseits aber vor allem eine offizielle Entschuldigung nicht nur durch die Exekutive in Form der Bundesministerin für Justiz, sondern auch durch jene staatliche Säule, die für die Beschlussfassung eben dieser Strafverfolgung grundsätzlich verantwortlich ist – der Gesetzgebung. Während der Deutsche Bundestag bereits im Jahr 2000 in Form einer Ehrenerklärung Verantwortung für die Verfolgung homosexueller Menschen übernommen hat, fehlt ein solches Zeichen durch das Österreichische Parlament bis heute.
Außerdem muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass keine Beleuchtung der Rechtsentwicklung hinsichtlich der österreichischen LGBTIQ-Community vollständig sein kann, ohne auf die Situation jener Menschen einzugehen, die nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung, sondern aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, ihres Geschlechtsausdrucks oder ihrer Geschlechtsmerkmale von Diskriminierung betroffen waren. Insbesondere trans* Personen waren lange nicht nur mit einem gesellschaftlichen Stigma konfrontiert, sondern auch von gesetzlichen Regelungen betroffen, die eine freie, selbstbestimmte Entfaltung ihres Lebens eingeschränkt und in vielen Fällen verunmöglicht haben. Obwohl die dahinterliegenden gesetzlichen Regelungen zwar nicht im Bereich des Strafrechts angesiedelt waren, erzeugten sie durch ihre praktischen Auswirkungen doch ähnlich weitreichende Einschränkungen für ein selbstbestimmtes Privatleben der Betroffenen wie jene Strafrechtsbestimmungen gegen Homosexualität, die in dieser Studie analysiert werden.
Auf die Situation des staatlichen Unrechts gegen trans* Personen wurde deshalb in dieser Arbeit durch einen eigenen Exkurs eingegangen. Dieser kann aber notwendigerweise nur der Anstoß für weitere wissenschaftliche Forschungs- und politische Aufarbeitungsarbeit sein. Gleichzeitig erfordern auch die Geschichte und die Auswirkungen staatlicher Regulierung von intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen dringend weitere Vertiefung.
Wie diese kurze, unvollständige Darstellung der Rechtsentwicklung bezüglich trans* Personen zeigt, muss eine umfassende Aufarbeitung des Unrechts, das LGBTIQ- Personen in Österreich nach 1945 mit den Mitteln des Rechtsstaates zugefügt wurde, nicht nur Fragen der Homosexualität bzw. der sexuellen Orientierung, sondern langfristig auch insbesondere der Geschlechtsidentität, der Geschlechtsmerkmale und des Geschlechtsausdrucks umfassen. Inzwischen zeigen nationale und internationale Gerichtsurteile genauso wie die Arbeit von Wissenschaft und Expert*innen klar, dass Einschränkungen wie der österreichische Operations- und Scheidungszwang massive Eingriffe in das Leben betroffener trans* Personen dargestellt haben – Eingriffe von solcher Tragweite, dass sie auch eine wissenschaftliche und politische Aufarbeitung notwendig machen werden.
Teil 4: Anhang – Rechtliche Meilensteine
1852
Das österreichische Strafrecht von 1852 bestrafte „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechtes“ in § 129 Ib als Verbrechen und legte in § 130 ein Strafmaß von ein bis fünf Jahre schwerem Kerker fest. Bereits im Strafrecht von 1803 gab es einen gleichlautenden Paragrafen, doch war die Strafandrohung mit einem halben bis ein Jahr schwerem Kerker wesentlich geringer. Das drakonische Strafrecht von Kaiser Franz Joseph I. wurde schon bald als zu hart empfunden und so kam es in den 1860er-Jahren, einer liberalen Phase der österreichischen Politik zu Diskussionen, das Strafrecht zu reformieren.
1867
jubelte der deutsche Jurist und Aktivist Karl-Heinrich Ulrichs: „Du aber seist mir gepriesen, o Oesterreich!“, als es von einem Entwurf des k.k. Justizministeriums las, in dem die „urnische Liebesübung aus der Reihe der Verbrechen gänzlich gestrichen“ worden war. In den veröffentlichten Motiven zum Entwurf eines Strafgesetzes über Verbrechen und Strafe hieß es als Begründung für die Streichung: „die beiderseitige Einwilligung und die Vornahme occultim vorausgesetzt, hat die Strafgesetzgebung keinen Anlaß zum Einschreiten, weil Niemandes Rechte verletzt sind, und weil es jedem überlassen bleiben muß, es vor sich selbst zu verantworten, wenn er sich […] gewissen Unsittlichkeiten hingibt.“ Doch leider hatte sich Ulrichs zu früh gefreut. Der Entwurf wurde vom Reichsrat nicht angenommen. Auch alle weiteren Reformbestrebungen hatten keinen Erfolg.
1870
Unter Berufung „auf das auch diesen Wesen angeborne Menschenrecht“ forderte der deutsche Jurist und Aktivist Karl Heinrich Ulrichs 1870 – zu einer Zeit, in der Ehen nicht standesamtlich, sondern nur kirchlich geschlossen werden konnten – die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Kirche habe nicht das Recht, gleichgeschlechtlich Begehrende rechtlos „von dem Ideal alles Erdenglücks, dem Liebesglück“ auszuschließen. Auch „Zwitter“ (Intersexuelle) müssten die Möglichkeit zur Familiengründung haben.
1929/30
Im Zuge von Diskussionen um eine Reform des deutschen Strafrechts, bei der der deutsche § 175, der beischlafähnliche Handlungen zwischen Männern verfolgte, abgeschafft werden sollte, kam es auch in Österreich zu einer Initiative, die Abschaffung von § 129 Ib zu diskutieren. Der Wiener Rechtsanwalts Dr. Otto Ekstein richtete im Mai 1930 eine Petition an das Bundesministerium für Justiz. Die Petition forderte „vom Standpunkt der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Vernunft“ aus eine Änderung des Sexualstrafrechts. Homosexualität sei eine natürliche Variante des Geschlechtstriebs, wurde argumentiert. Es gäbe zahlreiche Länder, in denen Homosexualität straffrei sei. Das Verbot sei eine „äußerste Verletzung der Menschenrechte“ und öffne dem Erpressertum Tür und Tor.
Zu den Unterzeichner:innen gehörten: Rosa Mayreder, die Kammersängerin Rosa Papier-Paumgartner und ihr Kollege, der Opernsänger Leo Slezak, Sigmund Freud, der Philosoph Moritz Schlick, der 1936 in der Universität ermordet wurde, die Schauspieler Hugo Thimig und Otto Tressler, der Kunsthistoriker Hans Tietze, der Regisseur Ernst Lothar, die Schriftsteller Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Franz Werfel und zahlreiche Universitätsprofessoren.
1938-1945
Während der NS-Herrschaft kam es zu mehr Verurteilungen und zu höheren Strafen. Dies gilt in der angeschlossenen „Ostmark“ auch für Frauen, da hier das alte österreichische Strafrecht weiterhin galt. Durch Internierung in einem KZ kommen jedoch viele Betroffene ums Leben. Von 118 bislang belegten KZ-Opfern aus Wien überlebten nur 30 Prozent.
Oktober 1954
Während der Großen Koalition zwischen ÖVP und SPÖ nahm im Oktober 1954 eine Strafrechtskommission die Diskussion auf. Schon zuvor hatte Justizminister Otto Tschadek (SPÖ) die Bestimmung des § 129 Ib als „absolutes Unrecht“ bezeichnet.
1955
Im Jahr 1955 erreichte Österreich mit 815 Verurteilungen den quantitativen Höhepunkt: 779 Männer (davon 177 Jugendliche) und 36 Frauen (davon 3 Jugendliche). Neben der Haftstrafe gab es auch weitere Folgen einer strafrechtlichen Verurteilung: etwa der Verlust des Führerscheins oder des akademischen Grades.
September 1957
Im September 1957 tagte eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzentwurfes. Ordentliche Kommissionsmitglieder waren u.a. der Bundesrat und spätere Justizminister Dr. Christian Broda, der Leitende Erste StA Dr. Franz Douda, der Landesgerichtspräsident Dr. Wilhelm Malaniuk oder Univ. Prof. Dr. Friedrich Nowakowski. Als Sachverständige waren u.a. der Kriminologe Univ. Prof. Dr. Roland Grassberger, oder die Psychiater Univ. Prof. Dr. Hans Asperger und Univ. Prof. Dr. Hans Hoff.
Die Strafrechtskommission trat mit zehn zu zwei Stimmen gegen die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Erwachsenen ein. Politisch umgesetzt wurde diese Empfehlung allerdings vorerst nicht.
1964
Aufbauend auf den Beschlüssen der Strafrechtskommission ließ 1964 Justizminister Christian Broda (SPÖ) einen Gesetzesentwurf erstellen und umfassend begutachten. Dieser war, wie auch der Entwurf von 1966, ganz auf Konsens mit dem Koalitionspartner ÖVP orientiert. Die katholische Kirche war schon 1957 gegen jede Reform aufgetreten.
1966
1966 erreichte die ÖVP die absolute Mehrheit. Ein Regierungsentwurf eines Strafrechts von 1968 hielt an der Strafbarkeit mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe fest, fünf Jahre bei homosexueller Prostitution oder bei sexuellen Handlungen Erwachsener (damals ab 21) mit Minderjährigen. Die Österreichische Liga für Menschenrechte protestierte gegen diesen von der Bischofskonferenz stark beeinflussten Entwurf vehement.
November 1969
Die SPÖ verwies in ihrem Justizprogramm darauf, dass durch die Strafrechtsreform in England 1967 bzw. in der Bundesrepublik Deutschland 1969 Österreich nun neben Finnland der letzte nichtkommunistische Staat Europas sei, „der die ebenso sinnlose wie unmenschliche Strafbestimmung“ gegen Homosexuelle aufrecht erhält.
1970
In der SPÖ-Minderheitsregierung wurde 1970 Christian Broda Justizminister. Wegen der Dringlichkeit sollten noch vor einer großen Strafrechtsreform Homosexualität unter Erwachsenen entkriminalisiert werden. Nach dem Regierungsentwurf vom Juni 1970 sollte strafbar bleiben: die Prostitution, die „Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht“ sowie „gleichgeschlechtliche Unzucht einer Person männlichen Geschlechtes, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, mit einer Person , die das einundzwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hat“.
Um dafür eine Mehrheit zu finden, war die Strategie der SPÖ die Verwissenschaftlichung des Themas: Es wurde 1970/71 mit Experten in einem Unterausschuss des Justizausschusses im Nationalrat diskutiert. Im Endentwurf wurde das Mindestalter für Beziehungen unter Männern mit 18 festgelegt, das Prostitutionsverbot auf Männer begrenzt und ein Verbindungsverbot festgelegt, um öffentliches Ärgernis zu unterbinden.
8. Juli 1971
An diesem Tag wurde im Nationalrat über das „Strafrechtsänderungsgesetz“ abgestimmt. Dafür stimmten die Abgeordneten der SPÖ und der FPÖ. Von der ÖVP stimmten neun Abgeordnete dagegen und drei verließen den Raum.
17. August 1971
Die Abschaffung des sogenannten Totalverbots homosexueller Handlungen trat in Kraft. Für die SPÖ, so eine Presseaussendung, ein „Jahrhundertgesetz“. Es wurden aber auch vier neue Strafrechtparagrafen eingeführt (hier zitiert in der Fassung von 1974):
Gleichgeschlechtliche Unzucht mit Jugendlichen
§ 209. Eine Person männlichen Geschlechtes, die nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahres mit einer jugendlichen Person gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
Gewerbsmäßige gleichgeschlechtliche Unzucht
§ 210. Wer gewerbsmäßig gleichgeschlechtliche Unzucht mit einer Person männlichen Geschlechtes treibt oder sich zu solcher Unzucht anbietet, ist, sofern nicht gleichgeschlechtliche Unzucht mit Jugendlichen (§ 209) vorliegt, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.
Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechtes oder mit Tieren
§ 220. Wer in einem Druckwerk, in einem Laufbild oder sonst öffentlich zur gleichgeschlechtlichen Unzucht oder zur Unzucht mit Tieren auffordert oder sie in einer Art gutheißt, die geeignet ist, solche Unzuchtshandlungen nahezulegen, ist, sofern er nicht als an der Unzuchtshandlung Beteiligter (§ 12) mit strengerer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht
§ 221. Wer eine Verbindung einer größeren Zahl von Personen gründet, deren wenn auch nicht ausschließlicher Zweck es ist, gleichgeschlechtliche Unzucht zu begünstigen, und die geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen, ferner, wer einer solchen Verbindung als Mitglied angehört oder für sie Mitglieder wirbt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
Mit diesen neuen Strafrechtbestimmungen wollte der Gesetzgeber ausdrücken, dass Homosexualität, wenn auch straffrei, kein gesellschaftlich erwünschtes Verhalten ist. Das In der NS-Zeit besonders stark propagierte Stereotpy des homosexuellen „Jugendverderbers“ wurde perpetuiert, Sichtbarkeit sollte weitgehend unterbunden werden und die im Gesetzestext formulierte Gleichsetzung von gleichgeschlechtlichen Handlungen mit Sodomie wurde die gesellschaftliche Ächtung von Homosexualität festgeschrieben.
1970er/1980er-Jahre
Organisationen wie die „Österreichische Liga für Menschenrechte“, die erste informelle Schwulengruppe der 1970er-Jahre „Coming Out“ und die 1979/80 gegründete HOSI Wien (und die in den folgenden Jahren sich in den Bundesländern gründende Vereine) engagierten sich bei der Abschaffung der verbliebenen vier Bestimmungen. Mit der Nichtuntersagung der Gründung der HOSI Wien als Verein war § 221 (Verbindungsverbot) praktisch totes Recht.
1. Jänner 1988
Schweden stellte als erstes Land der Welt gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften rechtlich mit verschiedengeschlechtlichen gleich und das dänische Parlament diskutierte (die 1989 umgesetzte) eingetragenen Partnerschaft. Die HOSI Wien forderte 1988 die bessere rechtliche Absicherung für „schwule und lesbische Lebensgemeinschaften und die Gleichstellung mit heterosexuellen Lebensgemeinschaften bzw. der Ehe“ auch in Österreich.
1989
Aufhebung von § 210 StGB, da das Prostitutionsverbot die AIDS-Präventionsarbeit unter Strichern erschwerte.
Dezember 1991
Der Regierungsentwurf für ein Strafrechtsänderungsgesetz sah die Streichung der §§ 220 und 221 (Werbe- und Verbindungsverbot) vor. Das Mindestalter 18 (§ 209 StGB) wurde vom Ministerium dem Parlament zur Diskussion empfohlen.
10. Oktober 1995
Der Justizausschuss des Nationalrates hört 13 Expert:innen zu den anti- homosexuellen Sonderstrafgesetzen (§§ 209, 220, 221 StGB), darunter RKL- Präsident Dr. Helmut Graupner. Die ExpertInnen votieren eindeutig für die Aufhebung der Sonderbestimmungen.
1995
Durch die Gründung des „Nationalfond der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“, bei dem erstmals auch Opfer der Homosexuellenverfolgung Anträge stellen konnten, das Entschädigungsfondsgesetz 2001 und durch eine Änderung des Opferfürsorgegesetzes 2005 wurde anerkannt, dass es im NS-Regime Verfolgung auf Grund der sexuellen Orientierung gab.
1996-1999
Sexualstrafrechtsreform-Arbeitsgruppe des Justizministeriums.
1996
Aufhebung von §§ 220, 221 StGB durch den Nationalrat am 27.11.1996, die beiden Bestimmungen traten Ende Februar 1997 außer Kraft.
Juli 1997
Justizminister Nikolaus Michalek machte einen Vorstoß zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgefährt:nnen im Mietrecht und im Dezember beantragte das Liberale Forum (LiF) im Mietrecht konkret das Eintrittsrecht im Todesfall. Der Antrag scheiterte an der ÖVP-FPÖ-Mehrheit im Parlament. Sechs Jahre später, im Juli 2003, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, dass die homosexuellendiskriminierende Auslegung des Mietrechtsgesetzes die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. In der Folge führt dieses Urteil zur Gleichstellung von homo- und heterosexueller Lebensgemeinschaften.
17. Juli 1998
Der Nationalrat beschloß, die Angehörigendefinition im Strafrecht (§ 72 StGB) auf gleichgeschlechtliche Lebensgefährt:innen auszudehnen.
1. April 2001
Kein Aprilscherz, an diesem Tag fanden in Amsterdam die weltweit ersten standesamtlichen Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare statt. Die Community in Österreich brachte unter dem Titel „Gleich viel Recht für gleich viel Liebe“ im Mai ihre Forderungen mit ca. 2.500 Unterschriften direkt als Petition in den Nationalrat ein.
2002
Der Verfassungsgerichtshof hob mit Entscheidung vom 21. Juni 2002 den § 209 StGB als verfassungswidrig auf, er trat am 13. August 2002 außer Kraft.
1. Juli 2004
Das neue Gleichbehandlungsgesetz und die Novelle zum Bundesgleichbehandlungsgesetz traten in Kraft. Durch diese Umsetzung der beiden EU-Antidiskriminierungsrichtlinien 43 und 78 aus 2000 wurde die Diskriminierung u. a. aufgrund der sexuellen Orientierung in der Arbeitswelt verboten. Damit wird auch die Pflegefreistellung bzw. Familienhospizkarenz zur Pflege kranker bzw. sterbender Angehöriger für gleichgeschlechtliche Lebensgefährt:innen möglich.
2005
ergingen Entscheidungen der Höchstgerichte zur Löschung aller Vormerkungen nach § 209.
28. September 2005
Die Grünen brachten den Entwurf eines „Amnestie-, Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetzes“ (AREG) für die Opfer der Homosexuellenverfolgung ein.
20. Oktober 2005
Der Verfassungsgerichtshof erklärte den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Mitversicherung in der Krankenversicherung für verfassungswidrig.
2006
Begnadigungen eines Großteils der nach § 209 verurteilten Personen durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag von BMin Karin Gastinger.
6. April 2005
Die SPÖ brachte einen Initiativantrag für eine „Eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare“ ein.
19. Oktober 2005
Die Grünen beantragten die Öffnung der Zivilehe für gleichgeschlechtliche Paare.
18. Juni 2006
Wegen des darin enthaltenen Scheidungszwanges für (nach geschlechtsanpassender Operation) gleichgeschlechtliche Ehepaare hob der Verfassungsgerichtshof am 18. Juni 2006 den sogenannten „Transsexuellenerlass“ des Innenministeriums auf.
Juli 2006
Der Versuch von Justizministerin Karin Gastinger zur Gleichstellung von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften scheitert am Koalitionspartner ÖVP. So blieb im Mai in einem Entwurf für ein Familienrechts-Änderungsgesetz auch weiterhin einer Lebensgemeinschaft von zwei Frauen die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung verwehrt. (Dies erklärte schließlich am 10. Dezember 2013 der Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig.)
2007
Unter Justizministerin Maria Berger lud lud das Justizministerium 2007 Community- Vertreter:innen in eine von Justiz- und Familienministerium gemeinsam eingesetzte Arbeitsgruppe „Gleichgeschlechtliche Partnerschaft“. Ab 24. Juli gab es mehrere Treffen bis 13. März 2008.
Mai 2007
„Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“ waren Thema bei der RichterInnenwoche in Bad St. Leonhard im Mai 2007. Die Debatte wurde vom Justizministerium veröffentlicht.
1. Oktober 2007
Bundesminister Josef Pröll, Leiter der ÖVP-Perspektivengruppe, präsentiert deren Ergebnisse, so auch eine Eingetragene Partnerschaft nach Schweizer Modell.
24. Oktober 2007
In der Arbeitsgruppe legte das Justizministerium einen ersten Entwurf für ein Lebenspartnerschaftsgesetz vor – im Prinzip eine detailgetreue Nachbildung des Ehegesetzes und der die Ehe betreffenden Bestimmungen des ABGB. In der Folge rückte die ÖVP jedoch vom „Schweizer Model“ ab und sprach sich z. B. gegen die Zuständigkeit des Standesamtes aus.
24. April 2008
Das Justizministerium brachte das „Lebenspartnerschaftsgesetz“ in die Begutachtung. Von der Community wurde kritisiert, dass es nur ein „Rumpfgesetz“ sei, denn nicht geregelt waren die Rechtsbereiche in der Zuständigkeit anderer Ministerien. Dadurch würden den vielen Pflichten im Innenverhältnis (z. B. Unterhalt) kaum bzw. keine der wirklich wichtigen Rechte im Außenverhältnis gegenüberstehen (so z. B. im Fremden-, Sozialversicherungs-, Pensions- und Steuerrecht). Das „Lebenspartnerschaftsgesetz“ müsse auch diese Rechtsbereiche umfassen. Durch die vorgezogene Nationalratswahl im September 2008 kam es jedoch nicht mehr zur parlamentarischen Behandlung der Gesetzesvorlage.
Herbst 2008
Das Regierungsprogramm der SPÖ-ÖVP-Koalition sah 2008 explizit die „Schaffung eines Partnerschaftsgesetzes zur rechtlichen Absicherung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften“ vor, wobei eine Arbeitsgruppe aus Justiz-, Innen- und Frauenministerium die Details festlegen sollte.
10. Dezember 2009
Das „Eingetragene Partnerschaft-Gesetz“ (EPG) wurde vom Nationalrat mit den Stimmen der Regierungsparteien SPÖ und ÖVP sowie einzelner Abgeordneter der Grünen und des BZÖ beschlossen. Das EPG passierte am 18. Dezember 2009 auch den Bundesrat und trat nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt (BGBl. I 135/2009 vom 30. Dezember 2009) planmäßig am 1. Jänner 2010 in Kraft.
4. Jänner 2010
Die ersten EP-Eintragungen in Österreich fanden am erstmöglichen Werktag statt: in Wien ließen sich am Montag, dem 4. Jänner 2010, vier Paare eintragen. Die ersten medienöffentlichen Eintragungen folgten am 7. Jänner 2010 in Graz und Villach (Kärnten).
2010-2017
Durch eine „Klagsoffensive“ beseitigte in der Folge der Verfassungsgerichtshof viele offenbar symbolisch bewusst gesetzte Unterschiede im „Eingetragene Partnerschaftsgesetz“ (EP) im Vergleich zur Eheschließung: Das Höchstgericht beseitigte im September 2011 die unterschiedliche Ausgestaltung von Doppelnamen bei Ehe und EP (mit bzw. ohne Bindestrich), im Juni 2012 den Amtsraumzwang für die Begründung von eingetragenen Partnerschaften, ordnete im Dezember 2012 die gleiche Zeremonie (Ja-Wort, Trauzeugen etc.) an und ab dem 1. April 2017 wurden eingetragene Partnerschaften, wie Ehen am Standesamt geschlossen und gleichgeschlechtliche Paare durften wieder einen „Familiennamen“ tragen und nicht nur einen „Nachnamen“. Zugleich verpflichtete der Europäische Menschengerichtshof Österreich zu Ersatzzahlungen für die jahrelang hartnäckig aufrecht erhaltene Segregation.
17. Februar 2010
Der Verwaltungsgerichtshof hob einen Bescheid des Innenministeriums auf, in dem – trotz der gegenteiligen höchstgerichtlichen Erkenntnisse aus 2009 – von einer transsexuellen Frau die Entfernung der Genitalien verlangt wurde. Nun wird für die Anerkennung im neuen Geschlecht keine genitalverändernde Operation mehr verlangt.
November 2010
Der Verwaltungsgerichtshof entschied gegen das „Zwangsouting“ transsexueller Menschen durch Heiratsurkunden. Die von der Innenministerin vorgegebenen Formulare, die die Ehepartner als „Mann“ und „Frau“ ausweisen, sind gesetzwidrig und nicht zu verwenden.
22.September 2011
Im Erkenntnis vom 22. September 2011 hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass auch gleichgeschlechtliche Paare den verfassungsgesetzlichen Schutz der Familie genießen.
Oktober 2011
Der Nationalrat beschloß die Erweiterung des gesetzlichen Schutzes gegen Verhetzung (§ 283 Strafgesetzbuch) auf sexuelle Orientierung.
1. August 2013
Seit diesem Tag dürfen in Österreich auch bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Stiefkinder adoptiert werden. Das Adoptionsrechts-Änderungsgesetz 2013 setzte damit ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte um.
11. Dezember 2014
Der Verfassungsgerichtshof hob das Verbot der gemeinsamen Adoption durch gleichgeschlechtliche, eingetragene Paare auf.
Jänner 2015
Mit dem Fortpflanzungsmedizinrechts-Änderungsgesetz ermöglicht der Nationalrat im Jänner 2015 auch bei lesbischen Paaren die automatische Co-Elternschaft für Kinder aus medizinisch unterstützter Fortpflanzung.
2015
Durch ein eigenes Gesetz können auf Antrag Betroffener Verurteilungen wegen Homosexualität getilgt werden.
4. Dezember 2017
In einem Verfahren von fünf Kindern, welche mit ihren gleichgeschlechtlichen Eltern deren Eheverbot bekämpften, öffnete der Verfassungsgerichtshof am 4. Dezember 2017 schließlich die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und umgekehrt die eingetragene Partnerschaft für verschiedengeschlechtliche Paare. Die sogenannte „Ehe für alle“ trat am 1. Jänner 2019 in Kraft und führte zu einer deutlichen Zunahme der rechtlichen Absicherung bei gleichgeschlechtlichen Paaren. Umgekehrt werden Eingetragene Partnerschaften nun vor allem von verschiedengeschlechtlichen Paaren geschlossen. Im Jahr 2022 waren von den 47.482 standesamtlichen Eheschließungen 791 gleichgeschlechtlich. Zugleich begründeten 106 gleichgeschlechtliche und 1.492 verschiedengeschlechtliche Paare eingetragene Partner:innenschaften.
15. Juni 2018
Mit seinem Erkenntnis hat der Verfassungsgerichtshof Österreich zum ersten Land in Europa gemacht, welches ein drittes Geschlecht als Menschenrecht anerkennt.
7. Juli 2020
An diesem Tag wurde in Österreich die erste Geburtsurkunde Österreichs mit dem Geschlechtseintrag „Inter“ ausgestellt.
7. Juni 2021
Justizministerin Alma Zadić entschuldigte sich im Namen der Justiz für die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen in der zweiten Republik.
12. Juni 2022
Angesichts einer weitverbreiteten Gerichtspraxis entschied der Verfassungsgerichtshof am 12. Juni 2022: Kein Paar darf wegen Gleichgeschlechtlichkeit von Adoptionen ausgeschlossen werden, gleich welche Staatsbürgerschaft es hat.
1. Februar 2024
Beschluss eines Gesetzes für Entschädigungszahlungen und die Rehabilitierung aller zwischen 1945 bis 2002 strafrechtlich verfolgten Personen.
Justizministerin Alma Zadić: „Mit der Aufhebung der Urteile und der finanziellen Entschädigung können wir das zugefügte Leid zwar nicht wieder gut machen, aber wir übernehmen als Staat damit Verantwortung für unsere Geschichte. Ich möchte heute noch einmal mein tief empfundenes Bedauern für das Unrecht, dass diesen Menschen widerfahren ist, ausdrücken. Sie wurden von den Institutionen, die sie eigentlich hätten schützen sollen, in ihrer Würde, in ihrem Menschsein verletzt. Als Justizministerin, entschuldige ich mich noch einmal in aller Form bei den Betroffenen für das geschehene Unrecht und auch für das lange Schweigen, das darauffolgte.“